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Im Gefängnis erfuhr ich von wahrer Gerechtigkeit

Im Gefängnis erfuhr ich von wahrer Gerechtigkeit

Im Gefängnis erfuhr ich von wahrer Gerechtigkeit

Erzählt von Ursula Menne

Solange ich denken kann, war es mein brennender Wunsch, dass jeder Mensch anständig und gerecht behandelt wird. Dieser Wunsch führte paradoxerweise zu einem Gefängnisaufenthalt im kommunistischen Osten Deutschlands. Und ausgerechnet dort erfuhr ich, dass es wahre Gerechtigkeit gibt. Darauf möchte ich näher eingehen.

ICH kam 1922 in Halle zur Welt, einer Stadt mit einer 1 200 Jahre alten Geschichte. Halle liegt etwa 200 Kilometer südwestlich von Berlin und war eine der ersten Hochburgen des Protestantismus. Meine Schwester Käthe wurde ein Jahr später geboren. Vater diente in der Infanterie und Mutter war Sängerin am Theater.

Von meinem Vater habe ich die starke Neigung geerbt, gegen Ungerechtigkeit anzugehen. Nachdem er aus dem Militärdienst ausgeschieden war, kaufte er ein Geschäft. Die meisten seiner Kunden waren arm, und weil sie ihm leidtaten, durften sie bei ihm anschreiben lassen. Wegen seiner Großzügigkeit musste er schließlich Bankrott anmelden. Was mein Vater erlebte, hätte mir eine Lehre sein sollen. Es ist schwieriger, als man denkt, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Doch jugendlicher Idealismus lässt sich nicht so leicht bremsen.

Von Mutter hatte ich die künstlerische Ader. Käthe und ich wurden von ihr mit der Welt der Musik bekannt gemacht. Ich war ein lebhaftes Kind. Wir lernten Singen und Tanzen und verlebten bis zum Jahr 1939 eine wunderschöne Jugendzeit.

Ein Albtraum beginnt

Nach dem Schulabschluss ging ich zur Ballettschule, wo ich auch Ausdruckstanz nach der Methode von Mary Wigman lernte. Sie war Wegbereiterin für diese Tanzform, bei der die Tänzer ihre Gefühle durch die Bewegungen zum Ausdruck bringen. Später zog es mich zur Malerei. Diese Jahre meiner Jungmädchenzeit waren unbeschwert, ausgefüllt mit Lernen und voll aufregender Erlebnisse. Aber dann brach 1939 der Zweite Weltkrieg aus und 1941 erschütterte Vaters Tod die Familie. Er starb an Tuberkulose.

Krieg ist ein Albtraum. Ich war bei Kriegsbeginn zwar erst 17, hatte jedoch das Gefühl, die ganze Welt sei verrückt geworden. Scharenweise ließen sich ganz normale Bürger von der NS-Hysterie mitreißen. Was folgte, waren Entbehrung, Tod und Zerstörung. Unser Haus wurde bei einem Bombenangriff schwer beschädigt und im Verlauf des Krieges kamen mehrere meiner Angehörigen ums Leben.

Als 1945 der Krieg zu Ende ging, waren Mutter, Käthe und ich noch in Halle. Ich war verheiratet und wir hatten eine Tochter. Doch in meiner Ehe kriselte es. Wir trennten uns und ich musste jetzt für meine kleine Tochter und mich sorgen. Ich arbeitete als Tänzerin und als Malerin.

Nach dem Krieg wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Halle befand sich in der sowjetisch besetzten Zone. Wir mussten uns alle erst einmal daran gewöhnen, unter einem sozialistischen Regime zu leben. 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik (DDR) gegründet, zu der auch der Teil Deutschlands gehörte, in dem wir lebten.

Unter einem sozialistischen Regime

In dieser Zeit wurde Mutter krank, und ich musste für sie sorgen. Bei der Stadtverwaltung fand ich Arbeit als Sekretärin. Damals kam ich in Kontakt mit regimekritischen Studenten, die auf die bestehenden Missstände aufmerksam machen wollten. Zum Beispiel wurde einem Jugendlichen der Studienplatz verweigert, weil sein Vater Parteimitglied bei den Nationalsozialisten gewesen war. Ich kannte diesen jungen Mann sehr gut; wir hatten oft zusammen musiziert. „Warum soll er für das leiden, was sein Vater getan hat?“, dachte ich. Mein Kontakt zu den Studenten wurde enger und ich schloss mich öffentlichen Protesten an. Einmal befestigte ich sogar Flugblätter an der Außentreppe des Gerichtsgebäudes.

Als Sekretärin des Kreisfriedenskomitees musste ich manchmal Briefe schreiben, die mein Gerechtigkeitsempfinden verletzten. In einem Fall plante das Komitee aus politischen Gründen, kommunistisches Propagandamaterial an einen älteren Mann in Westdeutschland zu schicken. Dadurch wäre er der Polizei aufgefallen. Dieses unfaire Verhalten hat mich derart empört, dass ich die Päckchen im Büro versteckte. Sie wurden nie abgeschickt.

„Die Schlimmste in diesem Raum“ machte mir Mut

Im Juni 1951 kamen zwei Männer in mein Büro und verkündeten: „Sie sind verhaftet!“ Man brachte mich in das Gefängnis, das als „Roter Ochse“ bekannt war. Ein Jahr später wurde ich wegen staatsfeindlicher Tätigkeit verurteilt. Ein Student hatte mich an die Stasi (Geheimpolizei) verraten. Er hatte sie über meinen Protest mit den Flugblättern informiert. Der Prozess war eine Farce, weil mich überhaupt niemand anhörte. Man verurteilte mich zu sechs Jahren Gefängnis. In dieser Zeit wurde ich krank und kam in das Gefängnishospital, und zwar in einen Schlafsaal mit 40 Frauen. Als ich all diese bemitleidenswerten Menschen sah, geriet ich in Panik. Ich rannte zur Tür und trommelte mit den Fäusten dagegen.

„Was wollen Sie?“, fragte der Wärter.

„Ich will hier raus“, schrie ich. „Bringen Sie mich in eine Einzelzelle, wenn es sein muss, aber lassen Sie mich hier raus!“ Natürlich ignorierte er meine Bitte. Kurz darauf bemerkte ich eine Frau, die sich deutlich von den anderen unterschied. Ihre Augen strahlten innere Ruhe und Gelassenheit aus. Ich setzte mich zu ihr.

„Seien Sie lieber vorsichtig, wenn Sie sich zu mir setzen“, sagte sie zu meiner Überraschung. „Einige halten mich für die Schlimmste in diesem Raum, weil ich eine Zeugin Jehovas bin.“

Damals wusste ich nicht, dass Jehovas Zeugen in der DDR als Staatsfeinde angesehen wurden. Aber ich erinnerte mich, dass mein Vater, als ich noch klein war, regelmäßig von zwei Bibelforschern (wie man die Zeugen damals nannte) besucht wurde. Einmal hatte er gesagt: „Die Bibelforscher haben recht!“

Ich weinte vor Erleichterung. Wie gut, dass ich dieser lieben Frau begegnet war! Sie hieß Berta Brüggemeier, und ich bat sie, mir etwas über Jehova zu erzählen. Von da an verbrachten Berta und ich viel Zeit miteinander und unterhielten uns über die Bibel. Unter anderem erfuhr ich, dass der wahre Gott, Jehova, ein Gott der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens ist. Er wird all den Schaden, der durch böse und tyrannische Menschen angerichtet worden ist, wiedergutmachen. „Nur noch eine kleine Weile, und der Böse wird nicht mehr sein . . . Die Sanftmütigen aber werden die Erde besitzen, und sie werden wirklich ihre Wonne haben an der Fülle des Friedens“, heißt es in Psalm 37:10, 11.

Entlassung und Flucht in den Westen

Nach mehr als fünf Jahren wurde ich 1956 aus dem Gefängnis entlassen. Fünf Tage später floh ich nach Westdeutschland. Zu dieser Zeit hatte ich zwei Töchter, Hannelore und Sabine, die ich mitnahm. Mein Mann und ich ließen uns scheiden und ich nahm den Kontakt zu den Zeugen wieder auf. Während meines Bibelstudiums wurde mir bewusst, dass ich einiges in meinem Leben ändern musste, um den Anforderungen Jehovas zu entsprechen. Das tat ich und ließ mich 1958 taufen.

Später heiratete ich wieder, diesmal einen Zeugen Jehovas, Klaus Menne. Wir führten eine glückliche Ehe und hatten zusammen zwei Kinder — Benjamin und Tabea. Tragischerweise starb Klaus vor etwa 20 Jahren bei einem Unfall. Seitdem bin ich verwitwet. Die Auferstehungshoffnung tröstet mich sehr. Ich weiß, die Toten werden im Paradies auf der Erde zum Leben zurückkehren (Lukas 23:43; Apostelgeschichte 24:15). Auch freue ich mich darüber, dass meine vier Kinder Jehova dienen.

Durch mein Bibelstudium ist mir eines klar geworden: Nur Jehova kann wahre Gerechtigkeit herbeiführen. Anders als Menschen, berücksichtigt er unsere Umstände sowie unsere Vorgeschichte — Einzelheiten, die anderen meistens verborgen bleiben. Diese kostbare Erkenntnis bewirkt schon jetzt in mir innere Ruhe und Gelassenheit, besonders wenn ich Ungerechtigkeit beobachte oder selbst erlebe. In der Bibel heißt es: „Siehst du den Armen unterdrückt sowie Gerechtigkeit und Recht im Lande beseitigt, so wundere dich nicht, dass solches vorkommt! Denn über den Hohen wacht ein Höherer, und ein noch Höherer über sie“ (Prediger 5:7, Pattloch-Bibel [5:8, NW]). Der „noch Höhere“ ist natürlich unser Schöpfer. „Alle Dinge sind nackt und bloßgelegt vor den Augen dessen, dem wir Rechenschaft zu geben haben“ (Hebräer 4:13).

Rückblick auf fast 90 Jahre

Manchmal werde ich gefragt, wie das Leben unter den zwei verschiedenen Regierungen war. Es war nicht leicht, weder unter der NS-Herrschaft noch unter dem sozialistischen Regime. Keine Regierungsform hat je gezeigt, dass der Mensch fähig ist, sich selbst zu regieren. Die Bibel sagt es klar und unmissverständlich: „Der Mensch [hat] über den Menschen zu seinem Schaden geherrscht“ (Prediger 8:9).

Als ich jung und naiv war, erwartete ich von Menschen eine gerechte Regierung. Jetzt weiß ich, dass nur unser Schöpfer eine wahrhaft gerechte Welt herbeiführen kann, und das wird er auch tun. Er wird alles Böse beseitigen. Die Herrschaft über die Erde hat er seinem Sohn, Jesus Christus, übertragen, der stets die Interessen anderer den eigenen vorangestellt hat. Von ihm sagt die Bibel: „Du hast Gerechtigkeit geliebt, und du hast Gesetzlosigkeit gehasst“ (Hebräer 1:9). Zu diesem wunderbaren, gerechten König hat Gott mich hingezogen und unter seiner Herrschaft möchte ich gern für immer leben.

[Bild auf Seite 23]

Mit meinen Töchtern Hannelore und Sabine nach unserer Ankunft in Westdeutschland

[Bild auf Seite 23]

Mit meinem Sohn Benjamin und seiner Frau Sandra heute