Wie kann ich meine Einsamkeit überwinden?
Kapitel 14
Wie kann ich meine Einsamkeit überwinden?
Es ist Samstagabend. Der Junge sitzt allein in seinem Zimmer.
„Ich hasse das Wochenende!“ schreit er. Doch in seinem Zimmer ist niemand, der ihn hört. Er blättert in einer Zeitschrift und sieht ein Bild mit einer Gruppe junger Leute, die sich am Strand amüsieren. Er schleudert das Heft gegen die Wand. Tränen treten ihm in die Augen. Er beißt sich auf die Lippen, aber die Tränen rollen ihm unaufhörlich über die Wangen. Da er nicht dagegen ankämpfen kann, läßt er sich aufs Bett fallen und schluchzt: „Warum werde ich immer übergangen?“
KOMMST du dir auch manchmal so vor — von der Welt abgeschnitten, einsam, zu nichts nütze und leer? Wenn ja, dann verzweifle nicht. Einsamkeit ist zwar nicht schön, doch man stirbt auch nicht daran. Einfach ausgedrückt, ist Einsamkeit ein Warnsignal. Der Hunger mahnt dich zum Essen. Die Einsamkeit mahnt dich zu Gemeinschaft, menschlicher Nähe und Vertrautheit. Wir brauchen Nahrung, damit unser Organismus richtig funktioniert. Und wir brauchen Gemeinschaft, um uns wohl zu fühlen.
Hast du schon einmal glühende Kohlen beobachtet? Wenn man eine Kohle von dem Haufen wegnimmt, hört die einzelne Kohle auf zu glühen. Aber legt man sie zurück auf den Haufen, so glüht sie wieder. Ebenso können wir Menschen isoliert nicht lange „glühen“ oder gut zurechtkommen. Es ist ganz natürlich, sich Gemeinschaft zu wünschen.
Allein, aber nicht einsam
Wilhelm von Humboldt schrieb: „Die wenigsten Menschen verstehen, wie unendlich viel in der Einsamkeit liegt.“ Stimmst du ihm zu? „Ja“, sagt Bill (20 Jahre). „Ich liebe die Natur. Manchmal fahre ich mit meinem kleinen Boot hinaus auf einen See. Ich bin dann stundenlang ganz allein. So habe ich Zeit, darüber nachzudenken, was ich mit meinem Leben anfangen will. Das ist herrlich.“ Der 21jährige Stefan ist ebenfalls dieser Meinung. „Ich wohne in einem großen Apartmenthaus“, sagt er, „und manchmal gehe ich auf das Dach des Gebäudes, um allein zu sein. Dort kann ich in Ruhe nachdenken und beten. Das tut gut.“
Ja, wenn man von Zeiten des Alleinseins guten Gebrauch macht, können sie einen mit tiefer Zufriedenheit erfüllen. Auch Jesus genoß es, hin und wieder allein zu sein: „Frühmorgens, als es noch dunkel war, stand er auf und begab sich hinaus und ging weg an einen einsamen Ort, und dort begann er zu beten“ (Markus 1:35). Jehova hatte nicht gesagt: „Es ist für den Menschen nicht gut, daß er vorübergehend allein sei.“ Nein, er hatte erklärt, es sei für den Menschen nicht gut, „weiterhin“ allein zu sein (1. Mose 2:18-23). Längere Zeit allein zu sein kann zu Einsamkeit führen. Die Bibel warnt: „Wer sich absondert, wird nach seinem eigenen selbstsüchtigen Verlangen trachten; gegen alle praktische Weisheit wird er losbrechen“ (Sprüche 18:1).
Vorübergehende Einsamkeit
Mitunter ist man allerdings umständehalber allein, wie zum Beispiel wegen eines Umzugs, durch den man von guten Freunden getrennt worden ist. Stefan erzählt: „An meinem früheren Wohnort waren James und ich Freunde; wir standen uns näher als Brüder. Ich wußte, daß ich ihn nach dem Umzug vermissen würde.“ Stefan hält inne, als würde er den Abschied in Gedanken nochmals durchleben. „Als ich an Bord des Flugzeugs gehen mußte, hatte ich einen Kloß im Hals. Wir umarmten uns, und dann ging ich. Ich hatte das Gefühl, etwas Kostbares verloren zu haben.“
Wie ist Stefan in seiner neuen Umgebung zurechtgekommen? „Es war hart“, sagt er. „An meinem alten Wohnort mochten mich meine Freunde, aber hier gaben mir einige meiner Arbeitskollegen das Gefühl, ich sei nichts wert. Ich erinnere mich, daß ich manchmal auf die Uhr schaute, vier Stunden zurückzählte — das war der Zeitunterschied — und überlegte, was James und ich wohl jetzt getan hätten. Ich fühlte mich einsam.“
Wenn alles nicht so läuft, wie man möchte, ist man oft geneigt, der Vergangenheit nachzutrauern. Doch die Bibel sagt: „Sprich nicht: ‚Weshalb ist es geschehen, daß sich die früheren Tage als besser erwiesen haben als diese?‘ “ (Prediger 7:10). Warum dieser Rat?
Die Dinge können sich zum Besseren wenden. Darum sprechen Forscher oft von „vorübergehender Einsamkeit“.
Stefan hat seine Einsamkeit überwunden. Wie? Er berichtet: „Ich habe mich mit jemand ausgesprochen, der Verständnis für mich hatte. Das hat mir geholfen. Man kann nicht in der Vergangenheit leben. Ich habe mich gezwungen, andere anzusprechen, Interesse an ihnen zu zeigen. Es hat geklappt; ich habe neue Freunde gefunden.“ Und wie steht es mit James? „Ich habe mich geirrt. Durch den Umzug ist unsere Freundschaft nicht auseinandergegangen. Neulich habe ich ihn angerufen. Wir redeten und redeten, eineinviertel Stunden lang!“Chronische Einsamkeit
Doch mitunter hält das quälende Gefühl der Einsamkeit an. Sie zu überwinden scheint unmöglich zu sein. Ronny, ein Schüler, erzählt: „Acht Jahre gehe ich nun in diese Schule, aber während der ganzen Zeit habe ich keinen einzigen Freund gefunden . . . Niemand weiß, was in mir vorgeht, niemand gibt sich mit mir ab. Manchmal ist es für mich unerträglich.“
Wie viele Teenager verspürt auch Ronny die sogenannte chronische Einsamkeit. Sie ist gravierender als vorübergehende Einsamkeit. Fachleute meinen sogar, daß beide Arten sich so deutlich „voneinander unterscheiden wie eine Erkältung von einer Lungenentzündung“. Doch ebenso, wie eine Lungenentzündung kuriert werden kann, so kann man auch etwas gegen die chronische Einsamkeit tun. Aber was? Der erste Schritt ist, die Ursache der Einsamkeit zu ermitteln (Sprüche 1:5). Was die 16jährige Rhonda sagt, trifft die üblichste Ursache der chronischen Einsamkeit genau: „Mir scheint, man fühlt sich einfach deshalb einsam, weil man keine Freunde haben kann, wenn man sich selbst nicht mag. Und ich kann mich vermutlich selbst nicht besonders leiden“ (Lonely in America).
Rhondas Einsamkeit hat innere Ursachen. Ihre geringe Selbsteinschätzung versperrt ihr wie eine Schranke die Möglichkeit, gegenüber anderen aufgeschlossen zu sein und Freundschaften zu schließen. Ein Experte erklärte: „Bei chronisch Einsamen sind Aussprüche wie ‚Ich bin nicht anziehend‘, ‚An mir ist nichts interessant‘, ‚Ich bin nichts wert‘ gang und gäbe.“ Der Schlüssel zur Überwindung der Einsamkeit liegt darin, an Selbstachtung zu gewinnen. (Siehe Kapitel 12.) Wenn du die in der Bibel erwähnte „neue Persönlichkeit“ anziehst, die sich durch Güte, Demut und Milde auszeichnet, wird sich deine Selbstachtung gewiß nach und nach steigern (Kolosser 3:9-12).
Außerdem werden deine Eigenschaften auf andere anziehend wirken, je mehr du es lernst, dich selbst leiden zu mögen. Doch ebenso, wie man die volle Farbenpracht einer Blüte erst sieht, wenn sie sich völlig entfaltet hat, so können andere deine Eigenschaften nur erkennen, wenn du sie ihnen erschließt.
Das Eis brechen
Für Einsame ist es gemäß einer Publikation des amerikanischen Instituts für psychische Gesundheit das beste, unter Menschen zu gehen. Diese Empfehlung stimmt mit dem biblischen Rat überein, ‘das Herz weit zu öffnen’ und „Mitgefühl“ oder Einfühlungsvermögen zu bekunden (2. Korinther 6:11-13, Die Bibel in heutigem Deutsch; 1. Petrus 3:8). Das hat sich bewährt. An anderen Interesse zu zeigen lenkt von der Einsamkeit ab und veranlaßt andere außerdem, sich dir zuzuwenden.
Die 19jährige Natalie faßte den Entschluß, die Hände nicht in den Schoß zu legen und nicht abzuwarten, daß jemand sie
begrüßt. „Auch ich muß freundlich sein“, sagt sie. „Womöglich hält man mich sonst für hochnäsig.“ Beginne mit einem Lächeln. Vielleicht lächelt der andere zurück.Der nächste Schritt ist, eine Unterhaltung anzufangen. Lillian, 15 Jahre alt, gibt zu: „Personen, die ich nicht näher kannte, das erstemal anzusprechen war für mich wirklich schrecklich. Ich befürchtete, sie würden mich nicht akzeptieren.“ Wie beginnt Lillian eine Unterhaltung? Sie sagt: „Ich stelle einfache Fragen, wie zum Beispiel: ‚Woher bist du?‘ ‚Kennst du diesen oder jenen?‘ Möglicherweise gibt es jemanden, den wir beide kennen, und schon entwickelt sich ein Gespräch.“ Freundliche Taten und Freigebigkeit werden auch dir helfen, wertvolle Freundschaften aufzubauen (Sprüche 11:25).
Denke auch daran, daß du einen Freund haben kannst, der dich niemals enttäuscht. Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ihr werdet mich allein lassen; und doch bin ich nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Johannes 16:32). Jehova kann auch dein engster Freund werden. Lerne seine Persönlichkeit kennen, indem du die Bibel liest und seine Schöpfung beobachtest. Festige deine Freundschaft mit ihm durch das Gebet. Bald wirst du feststellen, daß die Freundschaft mit Jehova Gott das beste Mittel gegen Einsamkeit ist.
Wenn du dich dennoch von Zeit zu Zeit einsam fühlst, dann sei nicht beunruhigt. Das ist vollkommen normal. Was aber, wenn du extrem schüchtern bist und du deshalb keine Freunde findest und nicht mit anderen zusammen bist?
Fragen zur Besprechung
□ Ist es unbedingt etwas Nachteiliges, allein zu sein? Hat die Einsamkeit Vorteile?
□ Warum ist Einsamkeit meist vorübergehend? Hast du dies bei dir auch festgestellt?
□ Was ist chronische Einsamkeit, und wie kannst du sie bekämpfen?
□ Welche Möglichkeiten gibt es, zwischen dir und anderen „das Eis zu brechen“? Was hat sich bei dir bewährt?
[Herausgestellter Text auf Seite 119]
Für Einsame ist es gemäß dem amerikanischen Institut für psychische Gesundheit das beste, unter Menschen zu gehen
[Bilder auf Seite 116, 117]
Freunde können in Verbindung bleiben, auch wenn sie weit voneinander entfernt wohnen
[Bild auf Seite 118]
Zeiten des Alleinseins können Freude bereiten