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Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)

Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)

Vereinigte Staaten von Amerika (Teil 1)

Unsere Erzählung beginnt in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Planwagen rollen noch über die offenen Ebenen und bringen Siedler in entfernte Teile des amerikanischen Westens. Riesige Herden von Bisons oder Büffeln — 1850 sind es etwa zwanzig Millionen — ziehen zwischen den Appalachen und den Gebirgszügen der Rocky Mountains umher.

Von 1861 bis 1865 verwüstet der schreckliche Bürgerkrieg das Land und fordert seinen Tribut an Menschenleben. Danach folgt eine Ära der Industrialisierung. Im Jahre 1869 wird die erste transkontinentale Eisenbahnlinie fertiggestellt. In den 1870er Jahren erscheinen das elektrische Licht und das Telefon auf der Bildfläche. Die elektrische Straßenbahn erleichtert den Stadtverkehr in den 1880er Jahren, und gegen Ende des Jahrhunderts machen ein paar Autos die Menschen geräuschvoll auf ihre Existenz aufmerksam.

Wie sich das religiöse Klima dieser Zeit entwickeln wird, ist völlig unabsehbar. Charles Darwin tritt in seinem Werk Die Entstehung der Arten, das 1859 erscheint, für die Theorie der Entwicklung des Menschen ein. Während die organisierte Religion gegen Evolutionslehre, Bibelkritik, Atheismus, Spiritismus und Untreue ankämpfen muß, hält die katholische Kirche das Erste Vatikanische Konzil ab (1869/1870) und unternimmt auf diese Weise Anstrengungen, ihre geschwächte Position zu stärken. Verschiedene andere Gruppen erwarten gespannt die baldige Wiederkunft Christi im Fleische — aber vergebens.

Dennoch, „der Abschluß des Systems der Dinge“ nähert sich. Irgendwo auf dem weltweiten Ackerfeld Gottes muß es bestimmt „Weizen“ — wahre Christen — geben. Aber wo?

‘EIN TAG KLEINER DINGE’

Man schreibt das Jahr 1870. Der Ort: Allegheny (Pennsylvanien). In Allegheny, das später ein Teil Pittsburghs wird, gibt es viele Kirchen. Eines Abends geht ein junger Mann von achtzehn Jahren in einer der Straßen Alleghenys spazieren. Wie er später selbst zugibt, war er „hinsichtlich des Glaubens an manche Lehren, die man seit langem für wahr gehalten, erschüttert“ und „gar schnell eine Beute der Vernunftlehre des Unglaubens“ geworden. Aber heute abend wird er von einem Lied angelockt. Er betritt ein staubiges, schmutziges Versammlungslokal. Zu welchem Zweck? „Um zu sehen, ob die paar Leute, die sich dort versammelten, etwas Vernünftigeres zu bieten hätten als die Glaubensbekenntnisse der großen Kirchengemeinschaften“, berichtet er später.

Der junge Mann setzt sich und hört zu. Jonas Wendell, ein Adventist (Second Adventist), hält die Predigt. „Seine Auslegungen der Schrift [waren] nicht ganz klar“, bemerkt unser Zuhörer später. Aber sie bewirken etwas. Er muß zugeben: „Sie [genügten] doch, unter Gottes Führung meinen erschütterten Glauben an die göttliche Eingebung der Bibel wieder zu festigen und mir zu erkennen zu geben, daß die Aussagen der Apostel und Propheten unzertrennlich miteinander verbunden sind.“

Dieser wißbegierige junge Mann war Charles Taze Russell. Er wurde am 16. Februar 1852 geboren und war der zweite Sohn von Joseph L. und Ann Eliza (Birney) Russell, die beide schottisch-irischer Abstammung waren. Charles’ Mutter, die ihn bei seiner Geburt dem Werk des Herrn geweiht hatte, starb, als er neun Jahre alt war. Doch schon früh erhielt Charles durch seine presbyterianischen Eltern seine ersten Eindrücke von der Religion. Später schloß er sich der nahe gelegenen Kongregationalistenkirche an, da sie etwas liberalere Ansichten vertrat.

Als elfjähriger Junge wurde Charles Teilhaber in dem Geschäft seines Vaters, und er schrieb selbst die Artikel des Vertrages über die Führung des Geschäfts. Mit fünfzehn Jahren hatte er zusammen mit seinem Vater eine immer größer werdende Kette von Herrenbekleidungsgeschäften. Im Laufe der Zeit besaßen sie Geschäfte in Pittsburgh, Philadelphia und an anderen Orten.

Währenddessen war der junge Charles ein aufrichtiger Erforscher der Heiligen Schrift geworden. Er wollte Gott dienen, soweit es in seinen Kräften stand. Ja, als er zwölf Jahre alt war, fand ihn sein Vater einmal um zwei Uhr nachts im Geschäft, eifrig in das Studium einer Bibelkonkordanz vertieft, ohne daß er gemerkt hatte, wie spät es geworden war.

Als Russell älter wurde, bekam er Zweifel. Besonders besorgt war er über die Lehre der ewigen Strafe und über die Lehre der Vorherbestimmung. Er kam zu dem Schluß: „Ein Gott, der seine Macht dazu gebrauchen würde, menschliche Wesen zu erschaffen, von denen er wußte, ja die er im voraus dazu bestimmte, daß sie ewig gequält werden sollten, konnte weder weise noch gerecht oder liebevoll sein. Seine Handlungsweise stände so tiefer als die vieler Menschen“ (1. Joh. 4:8). Dennoch glaubte der junge Russell weiterhin an die Existenz Gottes. Da sein Sinn so sehr mit Glaubenslehren beschäftigt war, untersuchte er die verschiedenen Glaubensbekenntnisse der Christenheit, studierte die bedeutenden Religionen des Ostens — und wurde tief enttäuscht. Wo war die Wahrheit zu finden?

Ein späterer Mitverbundener erzählte, daß Russell mit siebzehn Jahren wie folgt dachte: „Es hat keinen Zweck, daß ich mich weiter bemühe, aus den Glaubensbekenntnissen oder aus der Bibel selbst irgend etwas Vernünftiges über die Zukunft zu erfahren, und daher werde ich jetzt die ganze Sache vergessen und meine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Geschäft widmen. Wenn ich etwas Geld verdiene, kann ich es dazu verwenden, der leidenden Menschheit zu helfen, wenn ich ihr schon in geistiger Hinsicht nichts Gutes tun kann.“

Zu der Zeit, als den jungen Russell diese Gedanken beschäftigten, war es, daß er das bereits erwähnte Versammlungslokal in Allegheny betrat und die Predigt hörte, durch die sein erschütterter Glaube an die göttliche Eingebung der Bibel wieder gefestigt wurde. Er wandte sich an mehrere junge Männer aus seinem Bekanntenkreis und erzählte ihnen von seiner Absicht, die Bibel zu studieren. Bald begann sich diese kleine Gruppe — etwa sechs Personen — wöchentlich zu einem systematischen Studium der Bibel zu versammeln. Während sie in den Jahren 1870 bis 1875 regelmäßig zusammenkamen, erfuhren ihre religiösen Anschauungen grundlegende Änderungen. Im Laufe der Zeit segnete sie Jehova mit zunehmendem geistigen Licht und einem Verständnis der Wahrheit (Ps. 43:3; Spr. 4:18).

Russell schrieb: „Wir [lernten] auch den Unterschied erkennen zwischen unserem Herrn als ,dem Menschen, der sich selbst gab‘, und dem Herrn, der wiederkommen würde als ein Geistwesen. Wir sahen, daß Geistwesen gegenwärtig sein können, wiewohl sie für die Menschen unsichtbar sind. ... Und wir fühlten eine große Betrübnis über den Irrtum der Adventisten, die Christum im Fleische erwarteten und lehrten, daß die Welt und alles, was darin ist, die Adventisten ausgenommen, um das Jahr 1873 oder 1874 verbrannt werden würde. Ihre Zeitrechnungen und Enttäuschungen und unreifen Ideen hinsichtlich des Zweckes und der Art und Weise seines Kommens brachten allgemein mehr oder weniger Schmach auf uns und auf alle, die sich nach seinem Reiche sehnten und es verkündigten.“

Ernsthaft bemüht, solchen irrigen Ansichten entgegenzuwirken, schrieb und veröffentlichte der einundzwanzigjährige C. T. Russell auf eigene Kosten eine Broschüre mit dem Titel: „Der Zweck und die Art und Weise der Wiederkunft des Herrn“. Etwa 50 000 Exemplare wurden gedruckt und verbreitet.

Im Januar 1876 erhielt Russell ein Exemplar der religiösen Zeitschrift The Herald of the Morning. An der Umschlagseite erkannte er sogleich, daß die Schrift adventistischen Ursprungs war, aber ihr Inhalt war ihm eine Überraschung. Der Herausgeber, N. H. Barbour aus Rochester (New York), verstand, daß Jesus Christus nicht zu dem Zweck wiederkehren sollte, um zu zerstören, sondern um alle Familien der Erde zu segnen, und daß er wie ein Dieb kommen würde, nicht im Fleische, sondern als ein Geistwesen. Ja, aus biblischen Zeitprophezeiungen schloß Barbour, daß Christus damals gegenwärtig sei und daß das Werk der Trennung des „Weizens“ von der „Spreu“ (dem „Unkraut“) schon im Gange sei. Russell vereinbarte ein Treffen mit Barbour, und so kam es, daß die Pittsburgher Bibelklasse, die aus etwa dreißig Personen bestand, sich mit der etwas größeren Gruppe Barbours aus Rochester (New York) zusammenschloß. Von seinem eigenen Vermögen steuerte Russell Geld zum Druck des Herald bei, dessen Erscheinen damals fast eingestellt worden wäre, und er wurde Mitherausgeber der Zeitschrift.

Im Alter von fünfundzwanzig Jahren, im Jahre 1877, begann Russell seine Geschäftsanteile zu verkaufen und wurde ein Vollzeitprediger. Er reiste damals von Stadt zu Stadt und hielt biblische Vorträge bei öffentlichen Veranstaltungen, auf den Straßen und in protestantischen Kirchen. Aufgrund dieser Tätigkeit wurde er als „Pastor“ Russell bekannt. Er beschloß, sein Vermögen zur Förderung des Werkes einzusetzen, sein Leben den erkannten Wahrheiten zu widmen, Geldkollekten bei allen Zusammenkünften zu unterlassen und darauf zu vertrauen, daß das Werk mit Hilfe von freiwilligen Spenden fortgesetzt werden könne, wenn seine eigenen Mittel erschöpft seien.

Im Jahre 1877 veröffentlichten Barbour und Russell gemeinsam das Buch Three Worlds, and the Harvest of This World (Drei Welten und die Ernte dieser Welt). In diesem 196seitigen Buch wurde der Gedanke der Wiederherstellung mit biblischen Zeitprophezeiungen verbunden. Es wurde darin die Ansicht dargelegt, daß die unsichtbare Gegenwart Jesu Christi und eine vierzigjährige Zeitspanne, eingeleitet durch eine dreieinhalbjährige Ernte, im Herbst des Jahres 1874 begonnen habe.

Besonders beachtenswert war die erstaunliche Genauigkeit, mit der dieses Buch auf das Ende der Heidenzeiten, der „bestimmten Zeiten der Nationen“, hinwies (Luk. 21:24). Es wurde darin gezeigt (auf Seite 83 und 189), daß diese Zeit von 2 520 Jahren, in der heidnische oder nichtjüdische Nationen die Erde beherrschen würden, ohne von einem Königreich Gottes behindert zu werden, mit der Unterwerfung des Königreiches Juda durch die Babylonier Ende des siebenten Jahrhunderts v. u. Z. begann und im Jahre 1914 u. Z. enden würde. Jedoch hatte C. T. Russell schon früher einen Artikel mit der Überschrift „Wann werden die Zeiten der Nationen enden?“ geschrieben. Er war im Oktober 1876 in der Zeitschrift Bible Examiner erschienen, und Russell hatte darin u. a. geschrieben: „Die sieben Zeiten werden im Jahre 1914 n. Chr. enden.“ Er hatte korrekt die Heidenzeiten mit den im Buche Daniel erwähnten „sieben Zeiten“ in Verbindung gebracht (Dan. 4:16, 23, 25, 32). In Übereinstimmung mit diesen Berechnungen war 1914 tatsächlich das Jahr, in dem diese Zeiten endeten und das Königreich Gottes unter der Herrschaft Jesu Christi geboren wurde. Es ist wirklich erstaunlich. Jehova gewährte seinem Volk diese Erkenntnis schon fast vier Jahrzehnte vor dem Ablauf dieser Zeiten.

Eine Zeitlang ging alles gut. Dann kam der Frühling des Jahres 1878 herbei. Barbour erwartete, daß die auf Erden lebenden Heiligen dann in ihrem Leib entrückt würden, um für immer mit dem Herrn im Himmel vereinigt zu sein. Aber nichts dergleichen geschah. Wie Russell berichtete, „schien Mr. Barbour zu fühlen, daß er notwendigerweise etwas Neues finden müsse, um die Aufmerksamkeit von der Enttäuschung hinsichtlich der Entrückung der Gesamtheit der lebenden Heiligen abzulenken“. Und das tat er bald. „Zu unserer schmerzlichen Überraschung“, so heißt es in Russells Bericht, „schrieb Mr. Barbour bald darauf einen Artikel für den Herald, in welchem er die Lehre von der Versöhnung leugnete — leugnete, daß der Tod Christi der Loskaufspreis Adams und seines Geschlechtes sei. Er sagte, daß unseres Herrn Tod nicht mehr nützen könnte für die Bezahlung der Strafe für die Sünden der Menschen, als das Durchstechen einer Fliege mit einer Nadel, wodurch sie leiden und sterben würde, von irdischen Eltern als eine gerechte Sühnung für Verfehlungen ihres Kindes betrachtet werden würde.“

In der September-Ausgabe des Herald erschien ein Artikel Russells mit der Überschrift „Das Sühnopfer“, in dem er für das Lösegeld eintrat und dem Irrtum Barbours widersprach. Bis zum Dezember 1878 wurde die Kontroverse in den Seiten der Zeitschrift fortgesetzt. „Es war klar“, schrieb Russell, „daß eine weitere finanzielle Unterstützung einer Sache, die irgendwelchen gegnerischen Einfluß auf die Grundlagen unseres allerheiligsten christlichen Glaubens ausübte, nicht nach dem Willen des Herrn sei, desgleichen auch ein weiteres Zusammengehen damit.“ Was tat C. T. Russell deshalb? Er schreibt weiter: „Nachdem ich daher einen sehr sorgfältigen, aber erfolglosen Versuch gemacht hatte, den Irrenden zurückzubringen, zog ich mich gänzlich von dem Herald of the Morning und von weiterer Gemeinschaft mit Mr. Barbour zurück.“ Aber das genügte ihm noch nicht, um seine „unveränderte Treue unserem Herrn und Erlöser gegenüber“ zu beweisen. Und so folgten weitere Maßnahmen. Russell schreibt: „Ich erkannte es daher als des Herrn Willen, ein anderes Blatt zu gründen, in welchem das Banner des Kreuzes hochgehalten, die Lehre des Lösegeldes verteidigt und die gute Botschaft großer Freude so weit wie nur möglich verbreitet werden würde.“

C. T. Russell sah es als Gottes Weisung an, daß er das Reisen aufgeben und die Herausgabe einer Zeitschrift beginnen sollte. So erschien im Juli 1879 die erste Ausgabe der Zeitschrift Zions Wacht-Turm und Verkünder der Gegenwart Christi. Jetzt weltweit als Der Wachtturm bekannt, hat diese Zeitschrift immer die biblische Lehre vom Lösegeld hochgehalten. Es ist so, wie Russell einmal schrieb: „Von Anfang an hat dieses Blatt vor allem das ,Lösegeld‘ verteidigt, und durch Gottes Gnade hoffen wir dies stets zu tun.“

Der Anfang der Zeitschrift war ein „Tag kleiner Dinge“, denn von ihrer ersten Ausgabe wurden nur etwa 6 000 Exemplare gedruckt (Sach. 4:10), C. T. Russell, Vorsitzender der Bibelklasse in Pittsburgh, war ihr Schriftleiter und Herausgeber. Fünf weitere reife Erforscher der Bibel schrieben ursprünglich regelmäßig Beiträge für die Spalten dieser Zeitschrift. Sie war Jehova und den Interessen seines Königreiches gewidmet. Man hatte großes Vertrauen zu Gott, wie das zum Beispiel aus einer Erklärung in der zweiten Ausgabe hervorgeht: „ ‚Zions Wacht-Turm‘ wird, wie wir glauben, von JEHOVA unterstützt und braucht deshalb nie bei Menschen um Unterstützung zu bitten oder zu betteln. Wenn er, der sagt: ,All das Gold und Silber der Berge ist mein‘, nicht mehr die nötigen Mittel zur Verfügung stellt, nehmen wir an, daß es Zeit ist, ihr Erscheinen einzustellen.“ Ihr Erscheinen ist nie eingestellt worden. Statt dessen schnellte ihre Auflage in die Höhe, und gegen Ende 1974 wurden von jeder Ausgabe durchschnittlich über 8 500 000 Exemplare gedruckt.

Die feste Entschlossenheit, die biblische Wahrheit hochzuhalten und zu verkündigen, brachte diesen Erforschern der Bibel in den 1870er Jahren Gottes Segen ein. Obwohl viel religiöses „Unkraut“ auf dem weltweiten Feld wuchs, hatte Gott etwas unternommen, um den „Weizen“ oder die wahren Christen kenntlich zu machen (Matth. 13:25, 37-39). Es war nicht zu leugnen — Jehova berief Menschen „aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“ (1. Petr. 2:9). In den Jahren 1879 und 1880 gründeten C. T. Russell und seine Mitverbundenen etwa dreißig Versammlungen in Pennsylvanien, New Jersey, New York, Massachusetts, Delaware, Ohio und Michigan. Russell selbst richtete es ein, jede Versammlung persönlich zu besuchen. Sein Programm sah für jede Gruppe ein oder mehrere biblische Zusammenkünfte vor.

Diese ersten Versammlungen wurden „Ekklesias“ genannt (nach dem griechischen Wort ekklesia, was „Versammlung“ bedeutet), und manchmal wurden sie als „Klassen“ bezeichnet. Alle Glieder einer Versammlung stimmten über bestimmte Angelegenheiten ab und wählten auch einen Ausschuß von Ältesten, der für die Aufsicht über die Angelegenheiten der Versammlung verantwortlich war. Die Ekklesias waren dadurch miteinander verbunden, daß sie das Beispiel der Versammlung in Pittsburgh nachahmten, wo C. T. Russell und andere Wacht-Turm-Schreiber Älteste waren.

Jesus Christus ‘predigte den Gefangenen Freilassung’ (Luk. 4:16-21; Jes. 61:1, 2). Wenn ehrlichgesinnte Menschen des neunzehnten Jahrhunderts diese von Gott gegebene Freiheit erlangen sollten, dann mußte religiöser Irrtum bloßgestellt werden. Zions Wacht-Turm diente diesem Zweck. Doch noch etwas anderes trug dazu bei, dieses Bedürfnis zu stillen: Schriftforscher-Traktate (auch Alt-Theologie-Vierteljahreshefte genannt), die im Jahre 1880 und auch später von Russell und seinen Mitarbeitern geschrieben wurden. Diese Traktate wurden den Lesern des Wacht-Turms kostenlos zur Verbreitung zur Verfügung gestellt.

C. T. Russell und seine Mitverbundenen glaubten, daß die Erntezeit gekommen sei, und sie waren nur wenige an Zahl — im Jahre 1881 nur etwa einhundert. Aber die Menschen benötigten die befreiende Wahrheit, und durch Gottes unverdiente Güte sollten sie sie auch empfangen. „1 000 Prediger gesucht“ war der aufrüttelnde Titel eines Artikels, der im April 1881 in Zions Wacht-Turm (engl.) erschien. Denen, die die Hälfte ihrer Zeit oder noch mehr ausschließlich dem Werke des Herrn widmen konnten, wurde folgendes vorgeschlagen: „Daß ihr als Kolporteure oder Evangelisten in größere oder kleinere Städte geht, gemäß eurer Fähigkeit, und überall die ernsten Christen zu finden sucht. Ihr werdet viele finden, die Eifer für Gott haben, aber nicht nach Erkenntnis. Sucht ihnen den Reichtum der Gnade unseres Vaters und die Schönheiten seines Wortes kundzutun, indem ihr ihnen Traktate gebt.“ Unter anderem sollten diese Kolporteure (die Vorläufer der heutigen Pionierverkündiger) Abonnements auf den Wacht-Turm aufnehmen. Natürlich konnten nicht alle Wacht-Turm-Leser Vollzeitprediger sein. Doch wurden auch diejenigen nicht übergangen, die nicht ihre ganze Zeit einsetzen konnten, denn ihnen wurde gesagt: „Wenn ihr eine halbe Stunde oder eine Stunde oder zwei oder drei Stunden Zeit habt, könnt ihr sie ausnutzen, und es wird dem Herrn der Ernte annehmbar sein. Wer weiß, welche Segnungen eine Stunde Dienst unter Gottes Leitung mit sich bringen wird!“

Die gesuchten tausend Prediger folgten damals noch nicht dem Aufruf zur Tätigkeit (Im Jahre 1885 gab es etwa 300 Kolporteure.) Aber Jehovas Diener wußten, daß sie die gute Botschaft predigen sollten. Passenderweise hieß es daher in Zions Wacht-Turm in den Ausgaben vom Juli und August 1881 (engl.): „Predigst du? Wir glauben, daß keiner zur kleinen Herde gehört, er sei denn ein Prediger. ... Ja, wir wurden berufen, mit ihm zu leiden und jetzt diese gute Botschaft zu verkündigen, damit wir zur bestimmten Zeit verherrlicht werden und die Dinge vollbringen können, die jetzt gepredigt werden. Wir wurden weder dazu berufen noch gesalbt, Ehre zu empfangen und Reichtum anzuhäufen, sondern um auszugeben und uns zu verausgaben und die gute Botschaft zu predigen.“

Im gleichen Jahr (1881) verfaßte Russell zwei große Druckschriften. Die eine trug den Titel Tabernacle Teachings (Stiftshüttenlehren). Die andere — Food for Thinking Christians (Speise für denkende Christen) — stellte gewisse Irrlehren bloß und erklärte Gottes Vorhaben.

Ursprünglich wurden die Traktate und Zions Wacht-Turm fast ausschließlich von kommerziellen Firmen gedruckt. Doch wenn sich die Literaturverbreitung ausdehnen sollte und wenn die Bibelforscher (wie Jehovas Zeugen damals genannt wurden) Beiträge erhalten sollten, um das Werk weiter durchführen zu können, mußte eine Art Gesellschaft gegründet werden. So wurde Anfang 1881 Zion’s Watch Tower Tract Society als eine nichteingetragene Körperschaft gegründet, und C. T. Russell war ihr Manager. Er und andere steuerten großzügig 35 000 Dollar bei, damit diese Druckereiorganisation ihre Arbeit aufnehmen konnte. Im Jahre 1884 wurde die zunächst nicht eingetragene Gesellschaft als Zion’s Watch Tower Tract Society eingetragen, und Russell diente als Präsident. Heute ist diese religiöse Körperschaft als Watch Tower Bible and Tract Society of Pennsylvania bekannt.

„Der Zweck der Bildung der Korporation“, so heißt es in der Satzung, „ist folgender: die Verbreitung biblischer Wahrheiten in verschiedenen Sprachen mittels Herausgabe von Traktaten, Flugschriften, Zeitschriften und anderer religiöser Literatur, ferner durch jedes andere gesetzliche Mittel, das der rechtmäßig ernannte Verwaltungsrat [Vorstand] zur Erfüllung des erwähnten Zweckes als dienlich erachtet.“

„Die Verbreitung biblischer Wahrheiten“ erfuhr einen gewaltigen Auftrieb, als eine Serie von Büchern, betitelt Millennial Dawn (Millennium-Tagesanbruch, später Schriftstudien genannt), veröffentlicht wurde. Band I, von C. T. Russell in leichtverständlicher Sprache geschrieben, wurde im Jahre 1886 veröffentlicht. Zuerst war er Der Plan der Zeitalter und später Der göttliche Plan der Zeitalter betitelt und behandelte u. a. folgende Themen: „Das Dasein Gottes als eines allerhöchsten intelligenten Schöpfers nachgewiesen“, „Die Wiederkunft unseres Herrn. Ihr Zweck: die Wiederherstellung aller Dinge“, „Der Tag des Gerichts“, „Das Königreich Gottes“ und „Der Tag Jehovas“. Im Laufe von vierzig Jahren wurden sechs Millionen Exemplare dieser Veröffentlichung verbreitet, und dadurch wurde Hunderten aufrichtigen Wahrheitssuchern geholfen, aus der Knechtschaft der falschen Religion in die christliche Freiheit zu gelangen.

Im Laufe der Zeit schrieb C. T. Russell fünf weitere Bände der Anbruchs-Serie, und zwar folgende: Band II: Die Zeit ist herbeigekommen (1889); Band III: Dein Königreich komme (1891); Band IV: Der Krieg von Harmagedon (1897; ursprünglich Der Tag der Rache genannt); Band V: Die Versöhnung des Menschen mit Gott (1899); Band VI: Die Neue Schöpfung (1904). Russell beabsichtigte, noch einen siebenten Band zu schreiben, starb aber vorher.

Diese christlichen Schriften fanden großen Widerhall. Gottes Geist veranlaßte Menschen, etwas zu unternehmen. In einigen Fällen zogen sich Personen schnell von der falschen Religion zurück. „Die Wahrheit nahm mein Herz sogleich gefangen“, schrieb eine Frau im Jahre 1889, nachdem sie einen Band der Anbruchs-Serie gelesen hatte. „Folglich zog ich mich von der presbyterianischen Kirche zurück, wo ich so lange im dunkeln nach der Wahrheit gesucht und sie nicht gefunden hatte.“ Ein Geistlicher schrieb im Jahre 1891: „Nachdem ich drei Jahre lang in der M[ethodist] E[piscopal] Church gepredigt und die ganze Zeit ernsthaft die Wahrheit gesucht hatte, bin ich nun, mit Gottes Hilfe, ‘aus ihr hinausgegangen‘ “ (Offb. 18:4).

Andere drückten in ihren Briefen an die Gesellschaft den Wunsch aus, die gute Botschaft zu predigen. Zum Beispiel schrieben im Jahre 1891 ein Mann und seine Frau: „Wir haben uns dem Herrn und seinem Dienst völlig geweiht, um zu seiner Verherrlichung gebraucht zu werden; und so der Herr will, werde ich mich im Kolporteurwerk versuchen, sobald ich es einrichten kann, und wenn der Herr meinen Dienst annimmt und mich in seinem Werk segnet, dann werden wir unseren Haushalt aufgeben und dann werden sich meine Frau und ich am Erntewerk beteiligen.“

Sehr interessant war der Brief, den die Gesellschaft im Jahre 1894 von einem Mann erhielt, der von zwei Kolporteurinnen Bände der Anbruchs-Serie gekauft hatte. Er hatte die Bücher gelesen und bestellte nun zusätzliche Exemplare, abonnierte Zions Wacht-Turm und fühlte sich veranlaßt zu schreiben: „Meine liebe Frau und ich selbst [haben] diese Bücher mit dem lebhaftesten Interesse gelesen ..., und wir betrachten es als einen großen, von Gott erhaltenen Segen, daß wir die Gelegenheit empfingen, damit in Berührung zu kommen. Sie sind in der Tat eine ,Handreichung‘ zum Bibelstudium. Die großen Wahrheiten, wie sie in den Studien dieser Bände geoffenbart werden, haben unsere irdischen Bestrebungen ganz über den Haufen geworfen, und da wir die große Gelegenheit, etwas für Christus zu tun, wenigstens einigermaßen erkennen, beabsichtigen wir, Nutzen aus dieser Gelegenheit zu ziehen, indem wir diese Bücher vorerst unter unseren nächsten Verwandten und Freunden und dann auch unter den Armen, die sie lesen möchten und nicht kaufen können, verbreiten wollen.“ Dieser Brief war von J. F. Rutherford unterzeichnet, der sich zwölf Jahre später Jehova hingab und schließlich C. T. Russell als Präsident der Watch Tower Society folgte.

DAS BIBELHAUS

Die Bibelforscher hatten ihr Hauptbüro zunächst in Pittsburgh, Fifth Avenue 101 und später in Allegheny (Pennsylvanien), Federal Street 44. Ende der 1880er Jahre jedoch machte das immer schneller werdende Werk der Verkündigung der guten Botschaft und der Einsammlung schafähnlicher Menschen eine Ausdehnung notwendig. Und so errichteten Jehovas Diener ihr eigenes Gebäude. Dieses vierstöckige Backsteingebäude, das 1889 für 34 000 Dollar fertiggestellt wurde und in Allegheny, Arch Street 56-60 (später erhielt es die Hausnummern 610 bis 614) stand, war als „Bibelhaus“ bekannt. Ursprünglich befand sich das Eigentumsrecht in den Händen der Tower Publishing Company, eines privaten Konzerns, den C. T. Russell persönlich leitete und der einige Jahre lang Literatur für die Watch Tower Society zu einem vereinbarten Preis veröffentlichte. Im April 1898 wurde das Eigentumsrecht auf diese Fabrik und den Grundbesitz durch eine Schenkung der Watch Tower Society übertragen, deren Vorstand das Gebäude und die Ausrüstung auf 164 033.65 Dollar bewertete.

Das Bibelhaus diente etwa zwanzig Jahre lang als Hauptbüro der Gesellschaft.

„Wie sah es 1907 im Bibelhaus aus?“ fragt Ora Sullivan Wakefield. Sie beantwortet ihre Frage selbst und erzählt: „Damals gehörten nur dreißig Personen zur ,Familie‘, und da sie so klein war, war es wirklich eine Familie ... Wir alle aßen, schliefen, arbeiteten und hatten unsere Andachten in diesem einen Gebäude. Im Versammlungssaal gab es unter der Bühne auch ein Taufbecken.“

Stell dir nur einmal vor! Damals, im Jahre 1890, hatte die Watch Tower Society nur etwa vierhundert aktive Mitverbundene. Aber Jehovas heiliger Geist war wirksam und bewirkte gute Ergebnisse (Sach. 4:6, 10). Und so kam es, daß die 1890er Jahre eine Zeit der Mehrung waren. Ja, am 26. März 1899 versammelten sich Hunderte, um des Todes Jesu Christi zu gedenken. Laut eines unvollständigen Berichtes versammelten sich 339 Gruppen mit 2 501 Teilnehmern. Tatsächlich strömten schafähnliche Menschen „in die Hürde“ (Micha 2:12).

Die Ausdehnung des Predigtwerkes hatte durch eine Auslandsreise C. T. Russells im Jahre 1891 einen besonderen Antrieb erfahren. Auf dieser 27 000 Kilometer langen Reise kamen er und seine Begleiter nach Europa, Asien und Afrika. Danach wurde ein Literaturdepot in London eingerichtet. Außerdem wurden Vorkehrungen getroffen, die Schriften der Gesellschaft in Deutsch, Französisch, Schwedisch, Dänisch, Norwegisch, Polnisch, Griechisch und später auch in Italienisch zu veröffentlichen.

„ZUM HAUSE JEHOVAS LASST UNS GEHEN“

David freute sich immer, wenn es hieß: „Zum Hause Jehovas laßt uns gehen“ (Ps. 122:1). Und genauso freuten sich auch die ersten Bibelforscher, wenn sie sich zu Zusammenkünften und Kongressen versammeln konnten (Hebr. 10:23-25). Es gab viele geistige Segnungen, aber eines fehlte immer: der Kollektenteller. Bei allen Zusammenkünften und Kongressen der christlichen Zeugen Jehovas gilt das Schlagwort „Eintritt frei, keine Kollekte“. Und das ist auch richtig so, denn Jesus Christus sagte: „Kostenfrei habt ihr empfangen, kostenfrei gebt.“ Die Kosten, die in Verbindung mit den Versammlungsstätten des Volkes Jehovas entstanden, wurden immer durch freiwillige Spenden gedeckt (Matth. 10:8; 2. Kor. 9:7).

Stellen wir uns vor, wir schließen uns unseren Mitgläubigen jener Zeit an, während sie sich auf den Weg zu ihren wöchentlichen Zusammenkünften begeben. „Vor und auch nach der Jahrhundertwende“, so erzählt Ralph H. Leffler, „kam es nur ganz, ganz selten vor, daß wir Zusammenkünfte versäumten. In jenen Tagen hatten wir kein Auto. Und um zu den Zusammenkünften zu kommen, mußten wir, die wir auf dem Lande, 8 Kilometer von der Stadt entfernt, wohnten, entweder laufen ... oder einen Einspänner benutzen. Oft fuhren wir mit Pferd und Wagen oder Kutsche zweimal sonntags die insgesamt 16 Kilometer hin und zurück, um die Zusammenkünfte zu besuchen. Jahr für Jahr, Sommer und Winter, bei Regen und Sonnenschein nahmen wir unser Vorrecht wahr, immer mehr über die Wahrheiten der Bibel zu lernen und unseren Glauben zu stärken. Wir wollten keine Gelegenheit verpassen, uns mit Gleichgläubigen zu versammeln.“ Hazelle und Helen Krull erzählen: „Wenn der Schnee die Erde bedeckte, fuhren wir mit dem Pferdeschlitten, und während der Zusammenkunft deckten wir das Pferd mit einer Decke zu. Manchmal wartete das Pferd geduldig, und manchmal stampfte es ungeduldig.“

Was geschah in jenen ersten Zusammenkünften? Eine von ihnen stützte sich auf das Buch Die Stiftshütte, ein Schatten der wahren, besseren Opfer, das die Gesellschaft im Jahre 1881 herausgegeben hatte. Darin wurde die prophetische Bedeutung der Stiftshütte in Israel und der dort dargebrachten Opfer behandelt. Sogar Kinder zogen aus diesen Studien großen Nutzen. Sara C. Kaelin kann sich noch an diese Zusammenkünfte, die bei ihr zu Hause stattfanden, erinnern und erzählt: „Die Gruppe war gewachsen, und manchmal mußten die Kinder auf der Treppe sitzen, aber alle mußten lernen und Fragen beantworten. Was stellt der junge Stier dar? Der Vorhof? Das Heilige? Das Allerheiligste? Der Versöhnungstag? Der Hohepriester? Der Unterpriester? Das alles wurde uns so eingeprägt, daß wir uns im Geiste vorstellen konnten, wie der Hohepriester seine Pflichten versah, und wir wußten, was alles bedeutete.“

Mittwochs abends wurden „Cottage Meetings“ (Heimversammlungen) abgehalten. Diese wurden später auch „Gebets-“, „Lobpreisungs-“ und „Zeugnis-Versammlungen“ genannt. Darüber schreibt Edith R. Brenisen: „Nach einer Hymne und einem Gebet las der Leiter eine passende Schriftstelle vor, gab dazu einige Kommentare, und dann wurde den Freunden Gelegenheit gegeben, sich zu äußern, wenn sie es wünschten. Manchmal wurde eine freudige Erfahrung erzählt, die jemand im Dienstwerk gemacht hatte, oder irgendein Beweis für Jehovas besondere Führung oder seinen Schutz. Es stand einem frei, ein Gebet zu sprechen oder darum zu bitten, daß eine bestimmte Hymne gesungen wurde, durch deren Worte die Gedanken, die man im Herzen hatte, oft besser zum Ausdruck gebracht wurden, als es der Betreffende selbst tun konnte. Es war ein Abend, an dem wir über Jehovas liebevolle Fürsorge nachdachten und an dem wir mit unseren Brüdern und Schwestern eng verbunden waren. Während wir ihren Erfahrungen lauschten, lernten wir sie immer besser kennen. Wenn wir ihre Treue beobachteten und sahen, wie sie ihre Schwierigkeiten überwanden, dann fiel es uns oft leichter, unsere eigenen Probleme zu lösen.“ Diese Zusammenkunft war ein Vorläufer der heutigen Dienstzusammenkunft, die Jehovas Zeugen wöchentlich abhalten und durch die sie für ihr Predigtwerk ausgerüstet werden.

In jener Zeit wurden freitags abends „Dawn Circles“ (Tagesanbruch-Zirkel) abgehalten. Diese Zusammenkünfte wurden so genannt, weil zum Bibelstudium Bände der Anbruchs-Serie (Millennium-Tagesanbruch) benutzt wurden. Ralph H. Leffler erinnert sich, daß der Sonntagabend gewöhnlich dem Bibelstudium oder einem biblischen Vortrag gewidmet war. Manchmal wurden sogenannte „Karten-Vorträge“ gehalten. Was war das? Er erklärt: „In Band I der Schriftstudien befand sich hinter dem vorderen Buchdeckel eine lange Karte ... Diese Karte war auf die Größe eines Banners vergrößert worden ... und war beim Bibelhaus in Allegheny (Pennsylvanien) erhältlich. Diese Karte wurde vor der Zuhörerschaft an der Wand aufgehängt, und der Redner erklärte dann die vielen Bogen und Pyramiden, die darauf eingezeichnet waren. Die Karte enthielt eine graphische Darstellung der hauptsächlichen biblischen Ereignisse vom Anfang der Schöpfung an bis zum Ende des Millenniums und zum Beginn der ,ferneren Zeitalter’. ... Wir lernten aus diesen ,Karten-Vorträgen‘ viel über die biblische Geschichte. Und diese Vorträge wurden recht häufig gehalten.“

„Karten-Vorträge“ wurden in den regulären Versammlungsstätten des Volkes Jehovas und auch an anderen Orten gehalten. Waren diese Vorträge wirkungsvoll? C. E. Sillaway berichtet: „Die Vorträge müssen Früchte gezeitigt haben, denn die kleine Gruppe wuchs in weniger als 2 Jahren von 6 auf 15 Erwachsene an.“ Bei einer Gelegenheit hielt William P. Mockridge einen Karten-Vortrag in einer Baptistenkirche in Long Island City (New York) „mit dem Ergebnis, daß mehrere Mitglieder der Kirche [des Baptistenpredigers] in die Wahrheit kamen und der Prediger ..., C. A. Erickson, ebenfalls die Wahrheit annahm und später einer der reisenden ... Redner der Gesellschaft wurde“.

Die jährliche Feier zum Gedenken an den Tod Jesu Christi bot den Bibelforschern damals Gelegenheit, Kongresse abzuhalten (1. Kor. 11:23-26). Eine solche Zusammenkunft fand vom 7. bis 14. April 1892 in Allegheny (Pennsylvanien) statt. Es waren etwa 400 Diener Jehovas und interessierte Personen aus etwa zwanzig Bundesstaaten sowie aus Manitoba (Kanada) anwesend. Seitdem hat Gottes Volk natürlich in vielen Städten der Vereinigten Staaten und der ganzen übrigen Welt segensreiche Kongresse abgehalten. Und welch ein Wachstum Jehova doch gab! Der internationale Kongreß, den Jehovas Zeugen im Jahre 1958 unter dem Motto „Göttlicher Wille“ abhielten, zog insgesamt 253 922 Besucher aus 123 Ländern nach New York ins Yankee Stadium und in die Polo Grounds.

MUTIG UND STARKEN HERZENS IM DIENSTE GOTTES

„Freiwillige gesucht!“ — das war der aufrüttelnde Titel eines Artikels in Zions Wacht-Turm vom 15. April 1899 (engl.). Darin wurde eine neue Methode der Verbreitung der biblischen Wahrheiten beschrieben — eine Methode, durch die die Geistlichkeit der Christenheit im Sturm erobert werden sollte. Um an diesem Werk teilzunehmen, mußte man mutig und starken Herzens sein (Ps. 31:24). Jehovas Dienern wurde damals die Gelegenheit gegeben, sich an einer kostenlosen Massenverbreitung von 300 000 Exemplaren einer neuen Broschüre, Die Bibel gegen die Evolutionstheorie, zu beteiligen. Sie sollte den Menschen sonntags überreicht werden, wenn sie aus der Kirche kämen. Tausende von christlichen Freiwilligen setzten sich ganzherzig ein, und in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa wurde großartige Arbeit geleistet.

Dieses von Freiwilligen durchgeführte Werk wurde noch jahrelang fortgesetzt, besonders sonntags, und schließlich umfaßte es auch die Verbreitung von Traktaten, die von Haus zu Haus durchgeführt wurde. Mindestens zweimal im Jahr wurden neue Traktate veröffentlicht und zu Millionen an Kirchgänger verteilt. Im Jahre 1909 begann die Watch Tower Society, eine neue Serie von Traktaten — zuerst Die Volkskanzel, dann Jedermanns Blatt und noch später Der Schriftforscher — zu veröffentlichen. Mit Hilfe dieser monatlich erscheinenden Traktate wurde religiöser Irrtum bloßgestellt, wurden biblische Wahrheiten erklärt und die Nationen vor dem hochbedeutsamen Jahr 1914 gewarnt. Karikaturen und Illustrationen machten diese Traktate noch wirkungsvoller. Durch die Traktatverbreitung nahm die Öffentlichkeit immer mehr von Gottes Dienern Notiz, und sie wurden weit und breit als Bibelforscher und als Internationale Bibelforscher bekannt.

„Jede Klasse hatte einen Freiwilligen-Führer, der die Arbeit plante“, erzählt Edith R. Brenisen, „und die Arbeiter wurden Freiwillige genannt. ... Sonntag morgens beteiligten wir uns an diesem freiwilligen Werk. Wir stellten uns an die Eingänge der Kirchen. Wenn die Leute aus der Kirche kamen, überreichten wir ihnen die Traktate. ... Wenn die Leute um 12 Uhr herauskamen, überreichten wir ihnen die Schriften und warteten dann bis 1 Uhr, um dann diejenigen zu bedienen, die zur Sonntagsschule geblieben waren. Fast jeder nahm ein Traktat. Einige warfen es auf den Boden, und wir hoben es natürlich wieder auf. Die Botschaft, die die Traktate enthielten, lautete: ,Geht aus ihr hinaus, mein Volk.‘ “

Viele schöne Abende wurden damit verbracht, die Traktate zur Verbreitung vorzubereiten, Margaret Duth erinnert sich an die Abende, an denen Mitchristen zu diesem Zweck in ihrer Wohnung zusammenkamen, und schreibt: „Wir zogen den Eßzimmertisch auf die volle Länge aus, und einige von uns trennten die Traktate voneinander, während andere sie falteten; eine weitere Gruppe druckte mit einem Stempel Zeit und Ort des für Sonntagnachmittag geplanten Vortrages auf.“

Als nächstes kam die Verbreitung. Wie Samuel Van Sipma erzählt, war dies „eine Tätigkeit der Bibelforscher, an der praktisch jeder teilnahm“. Er fügt hinzu: „Viele von uns standen Sonntag morgens schon früh auf [etwa um 5 Uhr] und hinterließen in den Hauseingängen oder an den Wohnungstüren unseres zugeteilten Gebietes die Traktate. Gewöhnlich arbeiteten wir zu zweit oder zu viert. Natürlich wurden die Traktate auch zu anderen Zeiten verbreitet ... Einige bezeichneten diese Verbreitung der Traktate nicht zu Unrecht als ein Verstreuen von Edelsteinen gleich dem Morgentau, und zweifellos wurden viele erfrischt, wenn sie etwas über die begeisternde göttliche Wahrheit lasen.“

Sogar christliche Kinder beteiligten sich an der Traktatverbreitung. Grace A. Estep erinnert sich, wie sie und ihre beiden ältesten Brüder sich „Sonntag morgens auf Zehenspitzen zu den Hauseingängen schlichen und die Traktate unter die Türen schoben“. Es konnte gut sein, daß man auf Widerstand stieß, denn Schwester Estep erzählt weiter: „Manchmal ging plötzlich die Tür auf, und ein wahrer Riese von einem Erwachsenen stand vor uns, schrie irgendwelche Schimpfwörter und jagte uns mit einem Besen oder Spazierstock oder mit fuchtelnden Armen hinaus und drohte uns Schlimmes an, falls wir es jemals wagen sollten wiederzukommen. ... Hin und wieder nahm aber auch jemand das Traktat entgegen und lächelte uns an, und dann eilten wir nach Hause, um es unseren Eltern zu erzählen.“

Die Verwendung von Traktaten zeitigte gute Ergebnisse. Zum Beispiel erzählt uns Victor V. Blackwell: „Die Königreichswahrheit gelangte durch ein Traktat in unser Heim. Ein Traktat war der Anfang einer soliden Grundlage biblischer Wahrheiten für meinen Vater, meine Mutter, für mich selbst und andere Kinder und außerdem für viele weitere, die die hoffnungsvolle und glaubensstärkende Botschaft vom Königreich, der Regierung für die ganze Menschheit, annahmen.“

DIE PRESSE EINGESCHALTET

„Ein anderer Bestandteil [des Werkes], der nicht übersehen werden darf“, so erzählt George E. Hannan, „war die Veröffentlichung der Predigten Pastor Russells in den Zeitungen.“ Es wurde eine internationale Pressestelle eingerichtet, die C. T. Russells Predigten veröffentlichen sollte. Selbst wenn Russell reiste, schickte er an diese Pressestelle, die aus vier Gliedern des Hauptbüros der Gesellschaft bestand, eine Predigt in der Länge von ungefähr zwei Zeitungsspalten. Sie wiederum telegrafierten die Predigt an Zeitungen in den Vereinigten Staaten, Kanada und Europa. Die Telegrammspesen wurden von der Gesellschaft getragen, und die Zeitungen veröffentlichten dann die Predigten kostenlos.

In einer Druckschrift, betitelt The Continent, hieß es einmal über C. T. Russell: „Seine Artikel sollen in der Presse wöchentlich eine größere Verbreitung finden als die irgendeines anderen lebenden Menschen, zweifellos eine größere als die Verbreitung der Artikel aller Priester und Prediger Nordamerikas zusammen, eine größere Verbreitung sogar als das Werk Arthur Brisbanes, Norman Hapgoods, George Horace Lorimers, Dr. Frank Cranes, Frederick Haskins’ und eines Dutzends anderer der bestbekannten Herausgeber und Pressesprecher zusammen.“ Doch was wirklich wichtig war, war nicht der Mensch Russell, sondern die weite Verbreitung der guten Botschaft. „Mehr als 2 000 Zeitungen mit zusammen etwa 15 Millionen Lesern veröffentlichten zu gleicher Zeit seine Reden“, hieß es im Wacht-Turm vom Februar 1917. „Alles in allem haben wohl mehr als 4 000 Zeitungen seine Predigten gebracht.“ Es war also ein weiteres Mittel zur Ausbreitung der biblischen Wahrheit.

„BIBELKLASSEN-AUSDEHNUNGSWERK“

Die mutige Tätigkeit der Diener Jehovas wurde verstärkt, als im Jahre 1911 ein neuer Bereich des Werkes aufkam. Es handelte sich um einen ausgedehnten öffentlichen Vortragsfeldzug, „Bibelklassen-Ausdehnungswerk“ genannt. Achtundvierzig reisende Prediger begannen mit dieser neuen Tätigkeit, und sie wurden als öffentliche Redner auf bestimmte Vortragsreisen geschickt. Aber das war nicht der einzige Zweck des „Bibelklassen-Ausdehnungswerkes“. Man notierte Namen und Anschrift interessierter Personen, die die Vorträge besuchten, und die Betreffenden wurden später von Bibelforschern in ihrer Wohnung aufgesucht, mit dem Ziel, sie zusammenzubringen und neue Versammlungen zu gründen. Kolporteure halfen, diese Versammlungen zu organisieren, und so kam es, daß viele neue Versammlungen entstanden. Im Jahre 1914 gab es auf der ganzen Erde bereits 1 200 Versammlungen, die mit der Watch Tower Society verbunden waren.

„Wenn wir die Genehmigung erhalten hatten, einen Saal für einen öffentlichen Vortrag zu benutzen“, erzählen Hazelle und Helen Krull, „ließen wir in der Wochenzeitung eine Ankündigung drucken und gingen von Haus zu Haus, um die Menschen persönlich einzuladen. Vor dem Eingang des Saales stellten wir eine Tafel auf, auf der wir mit Kreide die Zusammenkunft ankündigten. Viele dieser Säle hatten nur Lampenlicht. Wenn wir bei der ersten Zusammenkunft Interesse beobachteten, wurden weitere Vorträge gehalten. Wir nahmen uns vor, jeden in der kleinen Gruppe der Anwesenden (und es war wirklich eine kleine Gruppe) persönlich zu begrüßen, uns mit jedem zu unterhalten und später interessierte Personen zu Hause zu besuchen, um ihr Interesse zu fördern.“

MIT DEN PILGERBRÜDERN REISEN

Schon 1894 wurden einundzwanzig reisende Vertreter der Watch Tower Society ausgesandt, um öffentliche Vorträge zu halten und um die Versammlungen der Bibelforscher geistig zu erbauen. Sie reisten nach einer festgelegten Route, und da die Versammlungen an Zahl wuchsen, wurden weitere Pilgerbrüder, wie sie genannt wurden, auf die Reise geschickt. Die Pilgerbrüder dienten den Interessen des Volkes Gottes von den 1890er Jahren an bis Ende der 1920er Jahre. Sie hatten eine ähnliche Einstellung wie Paulus, der den Christen in Rom schrieb: „Ich sehne mich danach, euch zu sehen, um euch irgendeine geistige Gabe mitzuteilen, damit ihr befestigt werdet, oder vielmehr zum Austausch von Ermunterung unter euch, indem jeder durch den Glauben des anderen, sowohl des euren wie des meinen, ermuntert werde“ (Röm. 1:11, 12).

Die Persönlichkeit der reisenden Prediger war so unterschiedlich wie die der Apostel Jesu Christi (Luk. 9:54; Joh. 20:24, 25; 21:7, 8). „Bruder Thorn hatte eine besonders milde Art; er war ein außerordentlich gepflegter kleiner Mann und trug einen Spitzbart“, erzählt Grant Suiter und fügt dann hinzu: „Die Pilgerbrüder waren auffallend ordentlich. ... Und was noch wichtiger war, sie halfen ihren Zuhörern, Glauben an das Wort Gottes zu entwickeln.“ Als Harold B. Duncan zum erstenmal Bruder Thorn traf, „erhielt er einen liebevollen und bleibenden Eindruck“. Bruder Duncan sagt: „Wenn er zu der Gruppe sprach, war er wie ein Vater, der seinen Söhnen und Töchtern und Enkeln liebevollen und herzlichen Rat gibt, etwa wie ein Patriarch in alter Zeit.“

Grace A. Estep erinnert sich: „Bruder Hersee liebte Musik, und nachdem wir Kinder ins Bett geschickt worden waren, spielte Mutti Klavier, Vati Geige, und Bruder Hersee sang die ,Hymnen‘. ... Von all den anderen, die wir kannten und liebten — Bruder [Clayton J.] Woodworth, Bruder Macmillan und andere, deren Leben ein wunderbares Beispiel des Ausharrens war —, hatten wir eine besondere Zuneigung zu Bruder Van Amburgh. Er war zu den ,herzlich Geliebten‘ so gütig und sanft, daß ich oft daran dachte, was für ein Mensch wohl der geliebte Apostel Johannes war.“

Wenn Ethel G. Rohner auf die Zeit zurückblickt, in der sie noch ein junges Mädchen war und Pilgerbrüder bei ihnen zu Hause wohnten, erzählt sie: „Sie waren immer an uns jungen Leuten interessiert — auch an meiner Schwester und meinem Bruder. Wir haben uns immer auf ihre Besuche gefreut. Als junges Mädchen hatte ich ein wenig Ehrfurcht vor ihnen wegen ihrer ruhigen Zuversicht und ihres Glaubens — weil sie alles als Jehovas Willen annahmen. Sie gaben uns jungen Leuten wirklich ein gutes Beispiel für christliche Stärke und Glauben.“

Zweifellos gewannen viele Pilgerbrüder auch deshalb die Zuneigung ihrer Mitgläubigen, weil sie sich bei ihren Besuchen „wie zu Hause“ fühlten. „Was machte einen solchen Besuch so angenehm?“ fragt Mary M. Hinds. Sie antwortet: „Der Pilgerbruder verzichtet auf die Begrüßung und fragt Vati gleich etwas über die öffentlichen Vorträge, ob er irgendwelche Fragen über Artikel im Wacht-Turm habe, wie es so in der kleinen Stadt vorangehe, ob seit dem letzten Besuch irgend jemand Interesse zeige, und stellt weitere Routinefragen. Bevor er sich dann in sein Zimmer zurückzieht, wendet er eine ganze Zeit uns Kindern (wir sind jetzt drei) seine Aufmerksamkeit zu. ,Ist er nicht nett?! Er spricht mit uns!‘ Wir sind begeistert, und so freuen wir uns von Anfang an über jede Minute seines Besuches, der gewöhnlich ein oder zwei Tage dauert. Vielleicht ist es diesmal Benjamin Barton, der mir eine Ansichtskarte von dem Kongreß mitgebracht hat, der 1910 am Chautauquasee stattfand, und sein Bild auf die Rückseite geklebt hat. Oder es ist Bruder J. A. Bohnet, der für meinen Bruder einen Drachen gebastelt und ihm dann geholfen hat, ihn steigen zu lassen. ... Bruder A. H. Macmillan mag sich einen Augenblick Zeit nehmen, um mit uns aufs Kornfeld hinauszugehen und sechs Ähren für sein Abendbrot auszusuchen.“

„Einige Pilgerbrüder hatten ihre persönlichen Eigenarten, und diese fielen natürlich auf“, gibt Harold P. Woodworth zu, „aber sie hatten auch hervorragende Eigenschaften — Gaben des heiligen Geistes, die einen tiefen und bleibenden Eindruck hinterließen.“ Schwester E. E. Newell bemerkt dazu: „Nie werde ich eine Äußerung Bruder Thorns vergessen, die mir bis heute geholfen hat. Er sagte, und ich zitiere: ,Immer, wenn ich anfange hoch von mir zu denken, stelle ich mich sozusagen in die Ecke und sage: „Du kleiner Staubfleck. Was bist du schon, um stolz sein zu können?“ ‘ “ Das ist wirklich ein beachtenswerter Charakterzug, denn „die Folge der Demut und der Furcht Jehovas ist Reichtum und Herrlichkeit und Leben“ (Spr. 22:4).

Diese reisenden Pilgerbrüder hatten es nicht leicht und bequem, wenn sie von Ort zu Ort reisten. Edith R. Brenisen schrieb über die Reisen ihres Mannes Edward, der in dieser Eigenschaft diente: „Um entlegene Orte zu erreichen, war es manchmal nötig, mit dem Zug, mit der Postkutsche, mit allen möglichen Wagen und zu Pferd zu reisen. Einige dieser Reisen waren sehr aufregend. ... Einmal hatte er eine Verabredung in oder bei Klamath Falls (Oregon). Um dorthin zu gelangen, mußte er, nachdem er eine Strecke mit dem Zug gefahren war, in der Nacht mit der Postkutsche reisen. Am nächsten Tag wurde er in einer kleinen Stadt von einem Bruder abgeholt, der mit einem Buckboard da war. (Falls du noch nie ein solches Gefährt gesehen hast oder darin gefahren bist, so laß dir sagen, daß es lediglich ein offener hölzerner Wagen auf vier Rädern ist, an dem die Achsen ohne Federn befestigt sind. Wenn man vor der Fahrt keine Rückenschmerzen hatte, dann hatte man sie bestimmt danach.) Nach einer langen Fahrt in die Berge kamen sie auf der Farm eines Bruders an, die in einem herrlichen Tal an einem Gebirgsbach lag.“

Und was gibt es über diesen Pilgerbesuch selbst zu erzählen? Schwester Brenisen berichtet weiter: „Bald war der Hof voll von Gespannen aller Art, mit denen die Freunde von überall her gekommen waren, um den Pilgerbruder zu hören. Die Zusammenkunft begann um 3 Uhr mit einer zweistündigen Ansprache, und danach wurden die Zuhörer gebeten, Fragen zu stellen, und es wurden viele gestellt. Sie machten dann eine Pause, um ein schmackhaftes Abendmahl einzunehmen, das die Schwestern zubereitet hatten, und dann gab es eine weitere zweistündige Ansprache, worauf weitere Fragen folgten.“ In jener Nacht schliefen die Schwestern im Haus und die Brüder im Heu. Ein Zimmer im Haus war für den Pilgerbruder reserviert worden, aber Bruder Brenisen zog es vor, zusammen mit den Brüdern in die Scheune zu gehen. „Der Morgen kam“, erzählt Schwester Brenisen, „und nach einem herzhaften Frühstück sattelte der Bruder drei Pferde, eines für das Gepäck und die anderen zwei für sie beide. Um zu dem Zug zu gelangen, der Edward zu seinem nächsten Bestimmungsort bringen sollte, mußten sie fast 100 Kilometer durch die Wildnis zur nächsten Eisenbahnstation reiten. Später erhielt Edward einen Brief von der Schwester, in dem sie ihm berichtete: ,Nach Deiner Abreise ging ich in die Scheune, um das Kopfkissen zu holen. Dort lag es auch, und der Abdruck, den Dein Kopf hinterlassen hatte, war noch zu sehen. Als ich das Kissen aufhob, entdeckte ich, daß unter dieser Stelle eine große Klapperschlange zusammengerollt lag, die die Wärme Deines Kopfes genossen hatte. Die Schlange war ziemlich unwillig darüber, daß sie gestört wurde, und zeigte das auch.‘ Wieviel besser ist es doch oft, bestimmte Dinge nicht zu wissen!“

Und was für Vorträge haben die Pilgerbrüder gehalten? Über einen Pilgerbruder, Bruder Toutjian, erzähle Ray C. Bopp: „Dieser Bruder war ein Unterweiser. Er lehrte mit Hilfe von Veranschaulichungen. ... [Er hatte] ein maßstabgetreues Modell der Stiftshütte in der Wüste, das er auf einem Tisch ausstellte ... Das Heilige, das Allerheiligste, der Vorhof mit dem Brandopferaltar und dem Becken waren von einem Stoffzaun umgeben, der 10 Zentimeter hoch war und der wie ein Vorhang an kleinen Metallstäben hing. Figuren der Priester standen in ihrer typischen Kleidung an der richtigen Stelle, und sie wurden dann jeweils an den Platz geschoben, an dem sie ihre Aufgaben versahen ..., [während Bruder Toutjian] jede Tätigkeit beschrieb und ihre prophetische Bedeutung anhand des Buches Die Stiftshütte erklärte.“

„Immer war ein öffentlicher Vortrag geplant“, erzählt Mary M. Hinds, „und oft hielt der Pilgerbruder einen Vortrag anhand der Karte der Zeitalter und erklärte die ,Heilszeitordnungen‘ und die ,Zeitalter‘, die darauf eingezeichnet waren. Mindestens ein Bruder, M. L. Herr, hatte einen illustrierten Vortrag. Mit Hilfe von Lichtbildern ließ er die kleine Ruthie aus seinem Vortrag durch die Auferstehung wieder zum Leben kommen. Ja, diese Brüder, die in jenen Tagen die Bindeglieder zwischen dem Hauptbüro dieser wachsenden Organisation und den verstreut lebenden Abonnenten des Wacht-Turms und den ,Ekklesias‘, die damals gegründet wurden, waren, hinterließen durch ihre Besuche Eindrücke, die das ganze Leben lang haftenblieben.“ Ollie Stapleton bringt ihre Gefühle wie folgt zum Ausdruck: „Diese Besuche waren Gelegenheiten zur geistigen Erbauung und Unterweisung, und sie halfen uns, mit Jehovas Organisation enger und in Einheit zusammenzuarbeiten.“

AUSDEHNUNG, WÄHREND SICH DIE HEIDENZEITEN IHREM ENDE NÄHERN

Als das erste Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts begann, waren sich die Bibelforscher wohl bewußt, daß die Zeit für die Nationen ablief. Schon lange hatte Gottes Volk auf das Jahr 1914 als auf das Ende der 2 520 Jahre dauernden Zeiten der Heiden geblickt (Luk. 21:24, Menge). Nun war dieser Zeitpunkt nur noch wenige Jahre entfernt, und C. T. Russell traf Vorbereitungen für einen gewaltigen, weltweiten Zeugnisfeldzug für die Nationen. Aber für ein solch umfassendes, internationales Werk war das Bibelhaus in Allegheny viel zu klein.

Daher wurden im Jahre 1908 mehrere Beauftragte der Watch Tower Society, unter anderem J. F. Rutherford (damals ihr Rechtsberater), nach New York geschickt. Zu welchem Zweck? Um ein geeigneteres Hauptbüro zu beschaffen, ein Grundstück, das Russell selbst bei einer früheren Reise ausfindig gemacht hatte. Das taten sie, und sie kauften das alte „Plymouth Bethel“ an der Hicks Street 13-17 in Brooklyn (New York). Es war ein Missionsgebäude, das im Jahre 1868 für die nahe gelegene Kongregationalistenkirche Plymouth gebaut worden war, deren Pfarrer einmal Henry Ward Beecher gewesen war. Die Abordnung der Gesellschaft kaufte auch Beechers altes, aus braunem Sandstein gebautes vierstöckiges Pfarrhaus an der Columbia Heights 124, das nur ein paar Häuserblocks entfernt lag.

Das ehemalige Wohnhaus Beechers wurde bald das neue Heim der über dreißig Mitarbeiter des Hauptbüros der Gesellschaft, und es wurde „Bethel“ genannt, was „Haus Gottes“ bedeutet. Das Gebäude in der Hicks Street wurde umgebaut und „The Brooklyn Tabernacle“ genannt. Darin befanden sich die Büros der Gesellschaft und ein schöner Versammlungssaal. Am 31. Januar 1909 waren zur Bestimmungsübergabe des neuen Hauptbüros der Gesellschaft 350 Personen zugegen.

Im Bethel hatte C. T. Russell sein Studierzimmer. Im unteren Stockwerk befand sich der Speisesaal mit einem langen Tisch, an dem vierundvierzig Personen Platz hatten. Hier versammelte sich die Familie, um vor dem Frühstück eine Hymne zu singen, das „Gelübde“ zu lesen und ein Gebet zu sprechen. Zu Beginn der Mahlzeit wurde ein Bibeltext aus dem Buch Täglich himmlisch Manna für den Haushalt des Glaubens vorgelesen und dann während des Frühstücks besprochen.

Würdest du gern einmal das Gelübde hören, das ihnen täglich eingeprägt wurde? Es hieß: „Mein feierliches Gelübde an Gott“ und lautete wie folgt:

„Unser Vater, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name. Mein Wunsch ist, daß du immer mehr in meinem Herzen regieren mögest und dein Wille immer mehr in meinem sterblichen Leibe geschehen möge. Im Vertrauen auf deine zu jeder Zeit der Not verheißene Gnade durch Jesus Christus, unsern Herrn, lege ich dieses Gelübde ab:

Täglich will ich vor dem himmlischen Gnadenthron der allgemeinen Interessen des Erntewerkes gedenken und besonders des Anteiles, dessen ich mich an diesem Werke erfreuen darf, sowie der lieben Mitarbeiter im Bibelhaus in Brooklyn und überall.

Ich gelobe dir, daß ich, wenn möglich, noch mehr als bisher alle meine Gedanken, Worte und Werke prüfen will, damit ich um so besser befähigt sein möge, dir und deiner teuren Herde zu dienen.

Ich gelobe dir, daß ich wachsam sein will, um jeder Sache zu widerstehen, die dem Spiritismus und Okkultismus ähnlich ist, und eingedenk dessen, daß es nur zwei Herren gibt, will ich diesen Schlingen, als vom Widersacher kommend, in jeder vernünftigen Weise zu widerstehen suchen.

Ich gelobe ferner mit Berücksichtigung der unten genannten Ausnahmen, daß ich mich zu allen Zeiten und an allen Orten gegen Personen des anderen Geschlechts im persönlichen Verkehr, wenn allein mit ihnen, genauso benehmen will, wie ich es öffentlich in Gegenwart einer Versammlung von Kindern Gottes tun würde, und soweit es vernünftigerweise möglich ist, will ich es vermeiden, mit jemand des andern Geschlechts in einem Zimmer allein zu sein, es sei denn, daß die Tür zu dem Zimmer weit offensteht. Ausgenommen sind die Ehegatten, Eltern, Kinder und Geschwister nach dem Fleisch.“

Gottes Diener im Bethel und anderswo sagten dieses Gelübde später nicht mehr auf. Aber die hohen Grundsätze, die in diesen Worten liegen, gelten immer noch.

Drei Häuserblocks vom Bethel entfernt lag das Brooklyn Tabernacle, ein altes Backsteingebäude mit zwei Stockwerken und einem Keller. Darin waren die Büros der Gesellschaft die Setzerei, für den Wacht-Turm, ein Lagerraum und auch eine Versandabteilung untergebracht. Im zweiten Stockwerk befand sich ein Versammlungssaal für 800 Personen. Hier hielt Bruder Russell regelmäßig Ansprachen.

Eine Zeitlang wohnten die meisten Mitarbeiter des Hauptbüros der Gesellschaft in der Columbia Heights 124. Später wurde das daran anschließende Gebäude, Columbia Heights 122, gekauft und dadurch das Bethelheim erweitert. Im Jahre 1911 wurde hinter dem Bethel an einem Abhang an der Furman Street ein neunstöckiger Anbau vollendet. Dieses Gebäude bot viel mehr Wohnraum und Platz für andere Einrichtungen. Auch ein neuer Speisesaal war darin untergebracht. Als Eigentümerin dieser Gebäude wurde im Jahre 1909 die People’s Pulpit Association (Volkskanzel-Vereinigung) gegründet, die heute als Watchtower Bible and Tract Society of New York, Incorporated bekannt ist. Diese und andere Körperschaften, die von Gottes Volk in verschiedenen Ländern gegründet wurden, arbeiten alle miteinander und mit der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas zusammen.

‘JEHOVA SEGNEN INMITTEN DER VERSAMMELTEN SCHAREN’

Regelmäßige Kongresse und andere öffentliche Zusammenkünfte der Bibelforscher waren ausgezeichnete Gelegenheiten, ‘Jehova inmitten der versammelten Scharen zu segnen’, wie es Gottes Diener schon in alter Zeit getan hatten (Ps. 26:12). Wie liefen diese Zusammenkünfte ab? Wir wollen sehen.

„Selbst hier, auf dem obersten Balkon des weltberühmten Auditorium Theater, der Heimat der Chicago Grand Opera, ist kein Sitz unbesetzt. Während ich die sieben Stockwerke zur Bühne hinabblicke, einen halben Block weit weg, frage ich mich, ob ich wohl meine Ohren werde anstrengen müssen, um hören zu können. Nach der Einleitung des Vorsitzenden erhebt sich Charles Taze Russell, legt seinen linken Zeigefinger in seine rechte Hand und fängt mit normaler Stimme an zu reden. Er spricht ohne Notizen. Kein Rednerpult ist vorhanden. Er bewegt sich ungezwungen auf der Bühne. Jedes Wort ist deutlich zu verstehen, während er das prophetische Ende der Heidenzeiten und den Beginn eines Millenniumzeitalters beschreibt.“

Das sind die Erinnerungen von Ray C. Bopp. Es ist nur eines von vielen Beispielen. Der Ort hätte genausogut die Royal Albert Hall in London sein können, wo C. T. Russell im Mai des Jahres 1910 vor großen Menschenmengen sprach. Es hätte aber auch das berühmte New Yorker Hippodrome Theatre sein können, wo Russell am 9. Oktober 1910 zu einer großen jüdischen Zuhörerschaft sprach. Über diesen Vortrag konnte man in der Zeitung New York American vom 10. Oktober 1910 auszugsweise folgendes lesen: „Das ungewöhnliche Schauspiel, daß 4 000 Hebräer begeistert einem heidnischen Prediger applaudierten, nachdem er ihnen eine Predigt über ihre eigene Religion gehalten hatte, bot sich gestern nachmittag im Hippodrome, wo Pastor Russell, der berühmte Vorsteher des Brooklyn Tabernacle, einen äußerst ungewöhnlichen Gottesdienst abhielt.“ Eine große Anzahl Rabbis und Lehrer war anwesend. „Es gab keine besondere Einleitung“, hieß es in der Zeitung. „Pastor Russell, groß, aufrecht und weißbärtig, ging auf die Bühne, ohne sich einzuführen, erhob seine Hand, und sein Doppelquartett aus dem Brooklyn Tabernacle sang die Hymne ,Zions froher Tag‘.“ Wie berichtet wird, wurde die Zuhörerschaft allmählich mit dem Redner „warm“. Zunächst gab es Applaus und zum Schluß donnernden Beifall. Als der Vortrag zu Ende war, gab Russell wieder ein Zeichen, und der Chor „sang die fremdartig klingende Melodie der Zionshymne ,Unsere Hoffnung‘, eines der Meisterstücke des exzentrischen, in East Side lebenden Dichters Imber“. Und die Wirkung? In dem Pressebericht heißt es weiter: „Der beispiellose Vorfall, daß christliche Stimmen die jüdische Hymne sangen, war eine gewaltige Überraschung. Einen Augenblick lang konnten die hebräischen Zuhörer kaum ihren Ohren trauen. Als sie dann sicher waren, daß es ihre eigene Hymne war, jubelten und klatschten sie mit einer solchen Begeisterung, daß die Musik darin unterging, und dann, bei der zweiten Strophe, stimmten Hunderte von ihnen mit ein. Am Höhepunkt der Begeisterung über die dramatische Überraschung, die er ihnen bereitet hatte, ging Pastor Russell von der Bühne, und die Zusammenkunft endete mit dem Ende der Hymne.“

Die Zeiten haben sich geändert und ebenso die christlichen Anschauungen über biblische Prophezeiungen, von denen man einstmals dachte, sie bezögen sich auf die natürlichen Juden unserer Tage. Mit dem zunehmenden Licht, das Gott gab, erkannte sein Volk, daß diese Prophezeiungen dem geistigen „Israel Gottes“, den gesalbten Nachfolgern Jesu Christi, Segnungen verheißen (Röm. 9:6-8, 30-33; 11:17-32; Gal. 6:16). Aber wir haben hier einen Rückblick auf den Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts unternommen, und so war es nun einmal in jenen Tagen.

Da Bruder Russell so gut bekannt war und bei vielen Gelegenheiten zu großen Menschenmengen sprach, möchtest du vielleicht gern wissen, wie es war, ihm zuzuhören. „Welch ein Unterschied zu dem gewöhnlichen Prediger!“ ruft C. B. Tvedt aus und fügt hinzu: „Keine Rhetorik, keine Gefühlsduselei. Keine Schau auf der Bühne. Er hatte eine viel wirkungsvollere und machtvollere Methode: die einfache, ruhige, überzeugende Darlegung des Wortes Gottes. Ein Schrifttext entschlüsselte den anderen, und das wirkte wie ein starker Magnet. Auf diese Weise hielt Bruder Russell seine Zuhörer gefesselt.“ Ralph H. Leffler erzählt, daß sich Bruder Russell vor einer Ansprache vor den Zuhörern mehrmals würdevoll verbeugte. Wenn er sprach, ging er auf der offenen Bühne hin und her und machte mit beiden Armen Gesten. „Er verwandte nie Notizen ..., sondern sprach immer frei aus dem Herzen“, wie Bruder Leffler berichtet. „Er sprach nicht laut, aber er hatte eine eigentümliche tragende Stimme. Ohne daß jemals eine Lautsprecheranlage verwendet wurde (damals gab es so etwas noch nicht), konnten ihn große Menschenmengen hören und verstehen, und er hielt sie ein, zwei und manchmal drei Stunden lang gefesselt.“

Doch der Mensch war nicht wichtig. Wichtig war die Botschaft, und die biblische Wahrheit wurde großen Menschenmengen verkündet. Es gab viele fähige Christen, die in jenen Tagen die gute Botschaft verkündigten, und einige Personen hörten ihnen mit Wertschätzung zu. Natürlich gab es zahlreiche Gegner, und manchmal versuchten sie ihre unbiblischen Ansichten in öffentlichen Debatten mit Jehovas Dienern zu verteidigen.

Am 10. März 1903 forderte Dr. E. L. Eaton, Prediger der North Avenue Methodist Episcopal Church, Russell zu einer sechstägigen Debatte heraus, was, wie sich später herausstellte, ein Versuch der Pittsburgher Prediger-Allianz war, Russells Bildung und seine biblischen Ansichten in Mißkredit zu bringen. Aus jeder dieser Debatten, die im Herbst jenes Jahres in Alleghenys Carnegie Hall stattfanden, ging Russell im ganzen genommen als Sieger hervor. Unter anderem erklärte er anhand der Bibel, daß die Seelen der Toten ohne Bewußtsein seien, während ihre Körper im Grabe lägen, und daß der Zweck des zweiten Kommens Christi und des Millenniums darin bestehe, alle Familien der Erde zu segnen. Russell lehnte auch mit biblischen Argumenten energisch die Höllenlehre ab. Wie berichtet wird, ging einer der anwesenden Geistlichen nach der letzten Debatte auf Russell zu und sagte: „Es freut mich, daß Sie den Wasserstrahl auf die Hölle richten und das Feuer auslöschen!“ Interessanterweise wurden nach dieser Debatte viele Mitglieder der Gemeinde Eatons Bibelforscher.

Eine andere bedeutsame Debatte fand vom 23. bis 28. Februar 1908 in Cincinnati (Ohio) zwischen C. T. Russell und L. S. White, einem Ältesten der „Jünger Christi“, statt. Tausende waren anwesend. Russell verteidigte mutig die biblische Lehre, daß die Toten von ihrem Tod an bis zur Auferstehung ohne Bewußtsein sind, und erklärte anhand der Bibel, daß Christi zweites Kommen dem Millennium vorausgehe und beides den Zweck habe, alle Familien der Erde zu segnen. Hazelle und Helen Krull waren damals anwesend und berichten uns: „Die Schönheit und die Harmonie der Wahrheit und die guten biblischen Argumente bei jedem Thema der Debatte standen in krassem Gegensatz zu den verwirrenden Lehren der Menschen. An einer Stelle sagte der ,Älteste White‘, der in der Debatte die entgegengesetzten Ansichten vertrat, verzweifelt, er erinnere sich an ein Schild über der Tür einer Schmiede, auf dem es hieß: ,Hier werden alle Arten von Drehungen und Windungen gemacht.‘ Aber für den aufrichtigen Wahrheitssucher war es eine Demonstration dessen, wie man ,das Wort der Wahrheit recht handhabt‘ [von seiten Russells; 2. Tim. 2:15] und wie das zur Harmonie führt.“ Die Schwestern Krull sind aufgrund ihrer Beobachtungen davon überzeugt, daß Jehova Bruder Russell mit seinem Geist gesegnet hat, so daß er die Wahrheit geschickt darlegen konnte, und sie bezeichnen dieses Ereignis als „einen Triumph der Wahrheit über den Irrtum“.

J. F. Rutherford nahm die Herausforderung der Baptistenkirche an, im Namen der Watch Tower Society mit J. H. Troy zu debattieren. Diese Debatte fand im April 1915 im Trinity Auditorium in Los Angeles (Kalifornien) vor 12 000 Zuhörern statt (schätzungsweise 10 000 mußten wegen Platzmangels abgewiesen werden), und sie erstreckte sich über vier Abende. Rutherford verteidigte mutig die biblische Wahrheit und ging aus der Debatte als Sieger hervor.

In den zwölf Jahren nach der Debatte zwischen Eaton und Russell nahmen Gottes Diener weitere Herausforderungen zu Debatten an. Aber die Gegner sagten gewöhnlich, vielleicht aus Furcht, die vereinbarten Treffen ab. C. T. Russell liebte diese Debatten nicht, denn er war sich der Nachteile bewußt, die sie für Christen haben konnten. Im Wacht-Turm vom 1. Mai 1915 (engl. Ausgabe) erklärte er unter anderem: „Diejenigen, die in der Wahrheit sind, sind an die Goldene Regel gebunden und müssen in ihren Darlegungen absolut fair sein, wohingegen ihre Gegner keinerlei Einschränkungen oder Hemmungen zu haben scheinen.“ „Jede Form der Argumentation“, schrieb Russell, „wird als erlaubt betrachtet, ohne daß der Zusammenhang, die Goldene Regel oder irgend etwas anderes berücksichtigt wird.“ Er erklärte außerdem: „Soweit es den Herausgeber betrifft, so hat er kein Verlangen nach weiteren Debatten. Er befürwortet das Debattieren deshalb nicht, weil er glaubt, daß dadurch selten etwas Gutes bewirkt wird und sowohl in den Rednern als auch in den Zuhörern Ärger, Gehässigkeit, Bitterkeit usw. aufkommt. Vielmehr setzt er denen, die es hören möchten, mündlich und in gedruckter Form die Botschaft des Wortes des Herrn vor und überläßt es den Gegnern, den Irrtum darzulegen, wie sie es für passend halten und die Gelegenheit dazu finden (Hebr. 4:12).“

Biblische Vorträge boten eine bessere Gelegenheit, die Wahrheit der Bibel darzulegen, und C. T. Russell sprach oft vor einer großen Zuhörerschaft. In den Jahren 1905 bis 1907 reiste er zum Beispiel mit einem Sonderzug oder mit einem Auto durch die Vereinigten Staaten und Kanada und leitete eine Serie eintägiger Kongresse. Damals hielt er den öffentlichen Vortrag „In die Hölle und wieder zurück“. In diesem Vortrag, den er in beiden Ländern in fast jeder größeren Stadt vor vollbesetzten Häusern hielt, beschrieb er auf humorvolle Art eine Reise in die Hölle und wieder zurück. Louise Cosby erinnert sich, daß Russell vereinbarte, diesen Vortrag in Lynchburg (Virginia) zu halten, und sie erzählt: „Mein Vater hatte große Plakate anfertigen lassen, auf denen dieser Vortrag angekündigt wurde, und er erhielt die Erlaubnis, sie vorn an Straßenbahnwagen anzubringen. Das war ziemlich amüsant, und die Leute fragten sich: ,Wenn uns dieser Wagen zur Hölle bringt, wird er uns auch dann wieder zurückbringen?‘ “

C. T. Russell hielt auch während seiner Auslandsreisen biblische Vorträge. Im Jahre 1903 unternahm er eine zweite Reise nach Europa und hielt in verschiedenen Städten Vorträge. Dann, vom Dezember 1911 bis zum März 1912, machte Russell als Vorsitzender eines siebenköpfigen Komitees eine Weltreise und kam dabei nach Hawaii, Japan und China, reiste dann durch Südasien nach Afrika, dann weiter nach Europa und schließlich zurück nach New York. Das Komitee studierte die Auslandsmissionen der Christenheit, und viele Vorträge wurden gehalten, und auf diese Weise wurde der Same der Wahrheit ausgestreut, so daß im Laufe der Zeit in weit abgelegenen Gebieten der Erde weitere Gruppen gesalbter Christen entstanden, die sich ebenfalls erfolgreich betätigten. C. T. Russell unternahm jedoch nicht nur diese Weltreise, sondern reiste auch regelmäßig nach Europa und fuhr, begleitet von vielen Mitarbeitern, in Sonderzügen durch ganz Nordamerika auf „Kongreßreise“.

IM „KONGRESSZUG“

Im Laufe der Zeit wurde C. T. Russell immer häufiger gebeten, persönlich zu erscheinen. Um Vereinbarungen für Vorträge einhalten zu können, fuhr er manchmal mit einem von der Bahn besonders eingesetzten „Kongreßwagen“, und eine kleine Gruppe begleitete ihn. Doch wenn größere Gruppen mitfuhren, wurden „Kongreßzüge“ zusammengestellt; einmal reisten 240 Personen mit Russell. Mehrere Eisenbahnwagen wurden zusammengekoppelt, und die Gruppen reisten nach einem bestimmten Fahrplan von einer Stadt zur andern. Nach ihrer Ankunft in einer Stadt kündigten Russells Mitarbeiter die öffentliche Veranstaltung mit Hilfe von Flugzetteln an. Vor der Veranstaltung begrüßten sie die Anwesenden, notierten sich Namen und Anschrift interessierter Personen, besuchten sie nach Möglichkeit und gründeten Versammlungen. Diese „Kongreßzüge“ wurden nicht selten benutzt, um Großstädte in den Vereinigten Staaten und in Kanada zu besuchen.

Warum nicht einmal in einen solchen „Kongreßzug“ einsteigen und in der fröhlichen Gemeinschaft von Christen reisen? Im Juni 1913 wurde ein Sonderzug für über 200 Bibelforscher organisiert, die C. T. Russell auf einer Reise begleiten wollten, die in Chicago (Illinois) beginnen und sie nach Texas, Kalifornien, Kanada und dann zu einem Kongreß in Madison (Wisconsin), verbunden mit einem Abstecher nach Rockford (Illinois), führen sollte. Malinda Z. Keefer berichtet darüber folgende Einzelheiten: „Unser Zug sollte am 2. Juni um 12 Uhr mittags vom Bahnhof Dearborn abfahren. Die ersten Brüder kamen schon um 10 Uhr, und es war eine glückliche und aufregende Zeit, da ich viele alte Freunde wiedertraf, die ich schon lange nicht mehr gesehen hatte, und neue Freunde kennenlernte. Es dauerte nicht lange, und wir erkannten, daß wir eine einzige große Familie waren. ... und der Zug war einen Monat lang unser Heim.“

Endlich ist es Zeit zum Abfahren. „Als der Zug aus dem Bahnhof rollte und wir uns auf unsere 13 000 Kilometer weite Reise begaben“, so erzählt Schwester Keefer weiter, „sangen unsere Freunde, die gekommen waren, um uns zu verabschieden, die Lieder: ,Gesegnet Band, das bind’t‘ und ,Gott mit dir, bis wir uns wiedersehn!‘ und winkten so lange mit ihren Hüten und Tüchern, bis wir ihren Blicken entschwunden waren. Nun befanden wir uns auf einer äußerst denkwürdigen Reise. In St. Louis (Missouri) und an ein paar anderen Stellen stiegen noch einige Freunde zu, bis wir schließlich 240 Personen waren. Bruder Russell stieg in Hot Springs (Arkansas) zu, wo gerade ein achttägiger Kongreß im Gange war.“

Diese Reise war in geistiger Hinsicht sehr erbauend. Schwester Keefer erzählt: „Überall dort, wo wir die Reise unterbrachen, wurde ein Kongreß abgehalten. Die meisten dauerten drei Tage, und wir hielten uns bei jedem Kongreß einen Tag auf. Bei jedem Aufenthalt hielt Bruder Russell zwei Vorträge, einen am Nachmittag für die Brüder und einen am Abend für die Öffentlichkeit, und zwar über das Thema ,Jenseits des Grabes‘.“ Schwester Keefer schildert die Empfindungen, die sie bei dieser Reise hatte, wie folgt: „Meine Wertschätzung für die Gemeinschaft mit all den Brüdern auf der langen Reise und für die geistig erbauenden Vorträge und die Belehrungen, die ich während jener Reise empfing, kann ich nicht in Worte fassen. Ich war Jehova dankbar, daß er mir ein solches Vorrecht gewährt hatte.“

Bei jenen ersten Kongressen des Volkes Gottes war einiges etwas anders als heute. Nimm zum Beispiel das „Liebesmahl“. Was war das? Über diesen Bestandteil der ersten Kongresse berichtet J. W. Ashelman: „Einige Bräuche, die später nicht mehr nötig waren oder nicht weiter gepflegt wurden, schienen damals ein Segen zu sein, zum Beispiel, daß sich die Redner auf der Bühne in einer Reihe aufstellten und Teller mit in Würfel geschnittenem Brot in der Hand hielten, während die Zuhörer vorbeimarschierten, etwas von dem Brot nahmen, jedem Redner die Hand schüttelten und gemeinsam das Lied ,Gesegnet Band, das bind’t der Christen Herz‘ sangen.“ Das war also das „Liebesmahl“, es war ein rührendes Erlebnis. Edith R. Brenisen gesteht offen: „Die Liebe, die wir zueinander hatten, ließ unser Herz überfließen, und oft liefen uns Freudentränen über die Wangen. Wir schämten uns unserer Tränen nicht, noch versuchten wir, sie zu verbergen.“

Die ersten Christen veranstalteten manchmal „Liebesmahle“, aber die Bibel beschreibt sie nicht näher (Jud. 12). Einige glauben, daß es Gelegenheiten waren, bei denen wohlhabende Christen ein Festessen gaben, zu dem sie ihre ärmeren Mitgläubigen einluden. Doch was diese „Liebesmahle“ damals auch immer gewesen sein mögen — die Bibel schreibt sie nicht vor, und so sind sie auch heute unter wahren Christen nicht mehr üblich.

EINE NEUE METHODE, DIE GUTE BOTSCHAFT ZU VERKÜNDIGEN

Die Bibelforscher waren sich der Bedeutung der Prophezeiung Jesu Christi wohl bewußt: „Und dieses Evangelium des Reiches wird gepredigt werden auf dem ganzen Erdkreis, allen Nationen zu einem Zeugnis, und dann wird das Ende kommen“ (Matth. 24:14, Elberfelder Bibel). Als daher jenes bedeutsame Jahr 1914 näher rückte, unternahm Gottes Volk einen gewaltigen Feldzug weltweiten Ausmaßes — ein Schulungs- und Warnungswerk, das bis dahin ohnegleichen gewesen war. Es wandte mutig eine neue Methode an, die gute Botschaft zu verkündigen.

Versetzen wir uns jetzt in das Jahr 1914. Stell dir vor du sitzt zusammen mit Hunderten von Menschen in einem verdunkelten Saal. Vor dir steht eine große Filmleinwand. Zu deiner Überraschung erscheint darauf ein weißhaariger Mann im Gehrock und fängt ohne Manuskript an zu reden. Oh, dies ist nicht der erste Film, den du dir ansiehst. Aber dieser ist anders. Der Mann redet, und du hörst seine Stimme. Das ist kein gewöhnlicher Stummfilm. Es ist etwas Besonderes, sowohl in technischer Hinsicht als auch durch die Botschaft, die dadurch vermittelt wird, und du bist beeindruckt. Der Mann? Es ist Charles Taze Russell. Und der Film? Es ist das „Photo-Drama der Schöpfung“.

C. T. Russell erkannte, daß Filme ein wirkungsvolles Mittel sind, große Menschenmengen zu erreichen. Im Jahre 1912 begann er daher, das Photo-Drama der Schöpfung vorzubereiten. Es war schließlich eine achtstündige Vorführung, bestehend aus Lichtbildern und Filmen, komplett mit Farbe und Ton. Das Photo-Drama sollte in vier Teilen aufgeführt werden, und es führte die Zuschauer von der Schöpfung an durch die Geschichte des Menschen bis zum Ende der Tausendjahrherrschaft Jesu Christi, zum Höhepunkt des Vorsatzes Gottes hinsichtlich der Erde und der Menschheit. Die Lichtbilder und Filme wurden mit Musikplatten und Phonographsprechplatten synchronisiert. Es hatte bis dahin schon verschiedene Experimente mit Farb- und Tonfilmen gegeben, aber es vergingen noch Jahre, bis sie wirtschaftlich erfolgreich waren. Der erste Farbfilm erschien erst 1922. Und die Kinobesucher mußten im allgemeinen bis 1927 warten, bis sie im Kino einen Film sehen konnten, der mit Musik und Sprache vertont war. Doch beim Photo-Drama der Schöpfung mußte man nicht auf Farbe, das gesprochene Wort und die Musik verzichten. Es war seiner Zeit um Jahre voraus, und Millionen sahen es kostenlos.

Die Gesellschaft gab für die Herstellung des Photo-Dramas etwa 300 000 Dollar aus — ein Vermögen für jene Tage. Und über die damit verbundene Arbeit schrieb Russell: „In seiner Güte verschloß uns Gott die Augen in bezug auf die Mühe und Arbeit, die das DRAMA mit sich brachte. Hätten wir gewußt, wieviel Zeit und Geld es kosten würde und wieviel Geduld nötig wäre, um damit beginnen zu können, hätten wir nie damit begonnen. Wir wußten aber auch nicht voraus, daß das DRAMA ein so großer Erfolg werden sollte.“ Platten mit ausgewählten Musikstücken und sechsundneunzig Phonographsprechplatten mit Vorträgen wurden vorbereitet. Von schönen Kunstgemälden, auf denen die Weltgeschichte dargestellt war, wurden Stereoskopbilder gemacht, und Hunderte neuer Gemälde und Zeichnungen mußten angefertigt werden. Alle Lichtbilder und Filme mußten mit der Hand koloriert werden. Ein Teil dieser Arbeit wurde im Atelier der Gesellschaft verrichtet. Und stell dir nur einmal vor! Das alles mußte mehrmals getan werden, denn es wurden mindestens zwanzig vierteilige Sätze hergestellt, so daß es möglich war, einen Teil des Dramas an einem bestimmten Tag in achtzig verschiedenen Städten zu zeigen.

Was geschah hinter den Kulissen, während das Photo-Drama der Schöpfung gezeigt wurde? „Das Drama begann mit einem Film über Bruder Russell“, erzählt Alice Hoffman. „Wenn er auf der Leinwand erschien und seine Lippen anfingen, sich zu bewegen, wurde genau im richtigen Moment ein Phonograph eingeschaltet, und wir konnten seine Stimme hören.“

Die Szenen, die zeigten, wie sich eine Blume öffnete oder wie ein Küken aus dem Ei schlüpfte, werden ein unvergeßlicher Bestandteil der Filme des Photo-Dramas bleiben. Diese Zeitrafferaufnahmen beeindruckten die Zuschauer wirklich. „Während diese Bilder gezeigt wurden“, erklärt Karl F. Klein, „wurden schöne Musikstücke gespielt, zum Beispiel solche Juwelen wie ,Narcissus‘ und die ,Humoreske‘.“

Es gab auch noch viele andere denkwürdige Dinge. „Noch jetzt“, erzählt Martha Meredith, „sehe ich im Geiste Noah und seine Familie mit den Tieren in die Arche gehen und Abraham und Isaak auf den Berg Moria steigen, wo Abraham seinen Sohn als Opfer darbringen sollte. Als ich sah, wie Abraham seinen Sohn — diesen Sohn den er so sehr liebte — auf den Altar legte, kamen mir die Tränen. Kein Wunder, daß Jehova Abraham seinen Freund nannte, ... er wußte, daß Abraham zu jeder Zeit seiner Stimme gehorchen würde“ (Jak. 2:23).

Außer dem regulären Photo-Drama der Schöpfung gab es auch Ausrüstungen für das „Heureka-Drama“. Die eine Ausrüstung bestand aus den sechsundneunzig auf Schallplatten aufgenommenen Vorträgen sowie Musikplatten Die andere bestand sowohl aus Schallplatten wie auch aus den Stereoskopbildern. Obwohl beim „Heureka-Drama“ keine Filme gezeigt wurden, konnte es in weniger dicht besiedelten Gegenden mit großem Erfolg vorgeführt werden.

Im Jahre 1914 wurde das Photo-Drama der Schöpfung überall in den Vereinigten Staaten kostenlos gezeigt. Das war sehr kostspielig, sowohl für die Gesellschaft als auch für die Bibelforscher an den betreffenden Orten, die Geld spendeten, damit geeignete Räumlichkeiten für die Vorführung gemietet werden konnten. Und so wurde es im Laufe der Zeit nicht mehr vor einer großen Zuhörerschaft gezeigt. Doch das Photo-Drama der Schöpfung hat einen großen Anteil daran gehabt, Menschen mit Gottes Wort und seinen Vorsätzen bekannt zu machen.

Zum Beispiel schrieb jemand an C. T. Russell: „Meine Frau und ich danken unserem himmlischen Vater für den großen und kostbaren Segen, der uns durch Ihre Mitwirkung zuteil geworden ist. Ihr wunderschönes Photo-Drama war für uns der Anlaß, die Wahrheit zu erkennen und als unser eigen anzunehmen.“ Und Lily R. Parnell erzählt uns: „Diese bildlichen Darstellungen der Vorsätze Jehovas hinsichtlich der Menschheit erweckten das Interesse vieler denkender Menschen, so daß die Versammlung [in Greenfield (Massachusetts)] wuchs, denn diese Bilder machten die Bibel zu einem lebendigen Buch, und sie zeigten nachdenklichen Menschen, welch kostbaren Aufschluß unser Gott zur Rettung derer beschafft hat, die sich diese Vorkehrung zunutze machen.“

Nicht ohne Grund sagte daher Demetrius Papageorge der schon lange ein Mitarbeiter im Hauptbüro der Gesellschaft ist: „Das Photo-Drama war ein Meisterwerk, wenn wir die kleine Anzahl von Bibelforschern berücksichtigen und bedenken, daß verhältnismäßig wenig Geld zur Verfügung stand. Jehova stand wirklich mit seinem Geist dahinter!“

DIE KOLPORTEURE — „GLÜHEND IM GEISTE“

Schon viele Jahre vor 1914 hatten eifrige Kolporteure — christliche Männer und Frauen, die „glühend im Geiste“ waren — die gute Botschaft weit und breit verkündigt (Röm. 12:11). Der Kolporteurdienst begann im Jahre 1881, als in Zions Wacht-Turm der Artikel „1 000 Prediger gesucht“ erschien. Personen, die keine familiären Verpflichtungen hatten und die die Hälfte ihrer Zeit oder mehr dem Werk des Herrn widmen konnten, wurde ein Plan vorgeschlagen. Er bestand darin, daß sie als Kolporteure oder Evangelisten in größere oder kleinere Städte gehen sollten. Zu welchem Zweck? Der Wacht-Turm schrieb: „[Sucht] überall die ernsten Christen zu finden ... Sucht ihnen den Reichtum der Gnade unseres Vaters und die Schönheiten seines Wortes kundzutun.“ In die Hände solcher Menschen sollten biblische Schriften gelegt werden, und es wurde den Kolporteuren gestattet, ihre eigenen Auslagen mit dem Geld zu bestreiten, das sie durch den Verkauf von Schriften oder durch das Aufnehmen von Abonnements auf den Wacht-Turm einnahmen.

Zions Wacht-Turm vom Mai 1887 (engl.) enthielt einige gute Vorschläge darüber, was die Kolporteure an den Türen sagen könnten. Auch hieß es darin: „Faßt euch ein Herz voller Liebe zu Gott und zu denen, die ihr ins Licht führen möchtet, voller Glauben an Gott und Vertrauen zu seinen Verheißungen und voller Hoffnung, daß es Gott gefallen wird, euch jetzt und auch in der Zukunft zu seiner Verherrlichung zu gebrauchen.“

Bereit, in Jehovas Dienst hart zu arbeiten, machten sich die Kolporteure einen Namen. Wohin sie auch kamen — in große und kleine Städte und in die Dörfer —, sie fielen auf. Ein Redakteur der Zeitschrift The Gospel Messenger fühlte sich Ende der 1890er Jahre bewogen zu sagen: „In Birmingham [Alabama] arbeiten jetzt mehrere Personen, die sich als ,nichtsektiererische Christen‘ bezeichnen. ... Sie haben in dieser Stadt von Haus zu Haus gearbeitet, das Werk MILLENNIAL DAWN verkauft und andere Schriften in Umlauf gesetzt. Sie sprechen bei jeder Gelegenheit über ihre Religion und predigen sonntags. Sie nennen sich ,Kolporteure‘. Sie haben in dieser Stadt über zweitausend Exemplare ihrer Bücher verbreitet. ... Warum können wir nicht unsere Schriften und die biblische Lehre, so, wie wir sie verstehen, auf die gleiche Weise verbreiten? Es ist eine Tatsache, fürchte ich, daß wir mit unseren Methoden festgefahren sind, und Gott deutet uns allmählich an, daß er uns, wenn wir keine Fortschritte machen, hintenanstellen wird.“

„Ja, in jener Zeit bearbeiteten Kolporteure die Städte und die Landgebiete“, schreibt Henry Farnick. Er erinnert sich noch gut an sie: „Manchmal tauschten sie [Bücher] gegen Farm-Erzeugnisse, Hühner, Seife und was sonst noch alles, was sie dann für sich gebrauchten oder an andere verkauften. In spärlich besiedelten Gegenden kam es auch vor, daß sie bei Farmern und Ranchern übernachteten, und manchmal schliefen sie sogar in Heuschobern ... Diese Treuen waren viele, viele Jahre tätig, bis das Alter sie überraschte.“

In all diesen Jahren sorgte Jehova Gott gut für diese treuen Kolporteure. Es fehlte ihnen tatsächlich an nichts Wesentlichem (Ps. 23:1). „Wir lebten sparsam von den Beiträgen, die wir durch die Verbreitung der Literatur erhielten“, sagt Clarence S. Huzzey. „Das erforderte Glauben an Jehovas liebevolle Fürsorge, und ich kann ehrlich sagen, daß wir nie Hunger leiden mußten und daß wir während der vielen Jahre des Vollzeitdienstes immer ausreichend Obdach und Kleidung hatten (Ps. 37:25). Wie wunderbar sorgte doch Jehova für das, was wir benötigten!“

Die Lebenshaltungskosten waren damals nicht sehr hoch, aber das bedeutete nicht, daß die Kolporteure es sich leisten konnten, anspruchsvoll zu sein. Nimm als Beispiel das Jahr 1910. Malinda Z. Keefer erinnert sich an eine Kolporteurzuteilung in Council Bluffs (Iowa), und sie schreibt: „Council Bluffs war ein härteres Gebiet, aber wenn man mit einer positiven Einstellung daranging, konnte man auskommen. Die Lebenshaltungskosten waren in jenen Tagen viel niedriger als heute. Unsere Beförderungsart (wir liefen) und auch die Lebensmittel waren nicht teuer: Brot kostete 5 Cent pro Laib, Zucker 5 Cent das Pfund, Steak 25 Cent das Pfund — und das war ein wirklicher Festschmaus, wenn wir es bekommen konnten. Die Zimmermieten waren angemessen, und der Fahrpreis für die Straßenbahn betrug 5 Cent. Welch ein Unterschied zu den 1970er Jahren!“

Ende 1921 nahm George E. Hannan den Kolporteurdienst auf. Über die Lebenshaltungskosten schrieb er: „Die Rechnung für die Verpflegung betrug in der Woche 4 Dollar. Ich hatte ein warmes Essen am Tag. Die anderen zwei Mahlzeiten bestanden aus Dörrobst und Gemüse, das ich gegen Schriften eintauschte. Wenn ich gefragt wurde, was ich machen würde, wenn mir die Mittel ausgingen, sagte ich: ,Nun, abwarten und sehen, was Jehova für mich tut.‘ Ich hörte von einigen, die aufgegeben hatten, als sie nur noch 50 Dollar hatten. Meiner Meinung nach war es noch nicht nötig, daß Jehova eingriff, solange man noch 50 Dollar oder auch nur noch 10 Dollar oder einen Dollar hatte. Ich war überzeugt, daß er mir helfen würde, die hohen Lebenshaltungskosten, nicht aber die Kosten für einen hohen Lebensstandard zu bestreiten.“

Und wie stand es mit den Transportmitteln? Charles H. Capen erinnert sich, daß er mehrere Verwaltungsbezirke Pennsylvaniens „auf ,Schusters Rappen‘ (zu Fuß)“ bearbeitete. Für andere Kolporteure war das Fahrrad eine wirkliche Hilfe. „In den Jahren 1911 bis 1914 arbeiteten Kolporteure in unserer Gegend in Ohio“, erklärt LaRue Witchey und fährt fort: „Sie arbeiteten hart im Dienste und fuhren viele Kilometer mit dem Fahrrad, beladen mit Schriftstudien.“ Natürlich konnte die erste Fahrt auf einem Fahrrad für einen Kolporteur ein aufregendes Erlebnis sein.

Vielleicht war ein Pferd besser geeignet. Malinda Z. Keefer erinnert sich noch liebevoll an Dobbin. „Dobbin war ein braves Pferd und mußte nie angebunden werden. Es wartete auf mich, wenn ich an die Türen ging, und ging dann mit mir zusammen zum nächsten Ort.“

Aber nicht alle Pferde waren wie Dobbin. Das mußten die Kolporteurinnen Anna E. Zimmerman und Esther Snyder erfahren. Stell dir zwei Frauen in einem gemieteten Pferdewagen vor, der von einem Pferd gezogen wurde, das gerade aus dem Westen eingetroffen war. Schwester Zimmerman erzählt uns: „Das Pferd ließ sich von niemandem überholen, nicht einmal von dem Zug, dessen Strecke mehrere Kilometer vor dem Mietstall parallel zur Straße verlief. Ich rief dem Lokführer zu: ,Warten Sie bitte am Bahnhof, bis wir unser Pferd zum Mietstall gebracht haben.‘ Er erwiderte: ,Okay, lassen Sie sich Zeit.‘ Das Pferd jagte so schnell weiter wie zuvor. Als wir den Stall ,okay‘ erreichten, entschuldigte sich der Stallbesitzer und sagte, er habe gerade zu Mittag gegessen, als wir das Pferd mieteten, und der Stalljunge, der sich vor dem Pferd fürchtete, habe es mir überlassen, das Pferd zuzureiten, was eigentlich seine Aufgabe gewesen sei.“

Dann gab es das Automobil, das in späteren Jahren von einigen Kolporteuren benutzt wurde. Heute gibt es natürlich in den meisten Gegenden der Vereinigten Staaten gut gepflasterte Straßen. Nicht aber vor einigen Jahrzehnten. Fahrten mit dem Auto konnten daher auch Probleme bereiten. Einmal zum Beispiel „war ein zugeschüttetes Loch so groß und die hineingeschüttete Erde so weich, daß der Wagen plötzlich bis zur Achse in das Loch sank“, schreiben Hazelle und Helen Krull. „Unsere so oft benutzte Schaufel war dieser mißlichen Lage nicht gewachsen“, erinnern sie sich. „Ein freundlicher Nachbar erbot sich, den Wagen mit seinem Maultier herauszuziehen, aber wir suchten noch zusätzlich die Straße nach Holzstücken, Stämmen oder Zweigen ab, um das tief eingesunkene Heck des Autos hochzustemmen. Und so war es ein glücklicher Augenblick, als es uns mit Hilfe des Maultiers vorn, der Maschine in der Mitte und energischer Stöße von hinten nach vielen vergeblichen Versuchen gelang, den Wagen aus dem Loch herauszuholen. Aber dieser Tag hatte auch seine Freuden. Vor diesem Zwischenfall hatten wir einige interessante Besuche gemacht, einige davon in abgelegenen Häusern, zu denen wir zu Fuß gingen; und so wurde die Mühe durch die Freude ausgeglichen. Wie David flehten wir oft in unserem Herzen: ,Höre doch, o Gott, meinen inständigen Ruf. Merke doch auf mein Gebet‘ (Ps. 61:1).“

Doch viel wichtiger als die Probleme, auf die die Kolporteure stießen, war ihre Predigttätigkeit. Stellen wir uns vor, wir begleiteten sie jetzt, während sie bei den Menschen vorsprechen. William P. Mockridge schloß sich Vincent C. Rice im Jahre 1906 in Schenectady (New York) im Kolporteurwerk an. Er hilft uns, uns in jene Tage zurückzuversetzen, und erzählt: „Am ersten Tag arbeitete ich den ganzen Tag lang, ohne irgend etwas abzugeben, und doch hielt man mich für einen Superverkäufer. In jener Nacht betete ich zu Jehova, er möge mir helfen, materielle Dinge aus meinem Sinn zu verbannen und die demütige und freundliche Art von Bruder Rice nachzuahmen, der immer ein fröhliches Wort auf der Zunge hatte, ganz gleich, wer an die Tür kam. So begann ich bald, viele gebundene Bücher abzugeben, und ich benutzte dabei einen von der Gesellschaft herausgegebenen ,Prospekt‘. ... Wir nahmen dann Bestellungen für die ersten drei Bände [der Schriftstudien] entgegen, die 98 Cent kosteten, oder für die sechs Bände, die 1.98 Dollar kosteten. Diese Bestellungen wurden am ,Zahltag‘, gewöhnlich am 1. oder 15. des Monats, ausgeliefert.“

Ist dir aufgefallen, daß Bruder Mockridge erwähnt, daß er einen „Prospekt“ benutzte? Dieser Prospekt wurde jahrelang von Kolporteuren und anderen Bibelforschern benutzt, die sich am Predigtwerk von Haus zu Haus beteiligten. Das war eine Sammlung der Buchdeckel der sechs Bände der Anbruchs-Serie (Schriftstudien), die so zusammengebunden waren, daß man sie wie eine Ziehharmonika auseinanderziehen konnte. An der Tür breitete der Kolporteur sie auf seinem Arm aus und hielt über jedes der Themen dieser Bücher eine Ansprache. Er nahm dann Bestellungen entgegen und lieferte die bestellten Bücher zu einer späteren Zeit ab.

„Die Liefertage waren hart“, gesteht Pearl Wright, „denn so ein Koffer voll Bücher war schwer zu tragen.“ Das kann man sich vorstellen. Nehmen wir an, ein Kolporteur hat Bestellungen für fünfzig Bände der Schriftstudien entgegengenommen. Eine solche Anzahl Bücher wog fast 20 Kilogramm, eine schwere Last für Frauen und sogar für viele Männer. Im Laufe der Zeit erfand der Kolporteur James H. Cole jedoch eine zweirädrige Vorrichtung aus Nickelblech, die an einem Koffer befestigt werden konnte.

Diese Vorrichtung „war ein Blickfang“, berichtet Anna E. Zimmerman, die uns erzählt: „Ich kann mich noch erinnern, daß wir einmal in Hollidaysburg (Pennsylvanien) Kolporteurdienst machten. Ich mußte meinen Koffer in der Mittagszeit direkt durch das Geschäftsviertel rollen. Davor hatte ich Angst, aber während ich so dahinging und meinen Koffer rollte, kam plötzlich ein gutgekleideter Herr von hinten auf mich zu, nahm den Griff meines Koffers in die Hand und fragte mich: ,Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich eine Zeitlang weiterschiebe? Ich möchte gern mal sehen, wie das geht. Sie können ja anscheinend spielend damit umgehen.‘ Nun, er rollte den Koffer durch das ganze Geschäftsviertel, und so brauchte ich es nicht selbst zu tun. Ich erfuhr, daß er der Zeitungsherausgeber der Stadt war.“ Am nächsten Tag stand ein ausführlicher Bericht in der Lokalzeitung.

Selbstlos arbeiteten die treuen Kolporteure eifrig und gewissenhaft und vertrauten auf Jehova. Und ihre Mühe wurde belohnt. Zufolge der Tätigkeit der Kolporteure entstanden neue Versammlungen. Die Kolporteure empfanden tiefe Befriedigung und wurden geistig reich belohnt. Im Jahre 1907 nahmen Edythe Kessler und ihre Schwester Clara freudig den Kolporteurdienst auf. Sie gingen viel zu Fuß, und am „Liefertag“ gab es viele Bände zu tragen. Ja, sie wurden müde, aber Edythe scheint im Namen aller treuen Kolporteure der alten Zeit zu sprechen, wenn sie sagt: „Wir waren jung und glücklich im Dienst und freuten uns, unsere Kraft im Dienste für Jah zu verbrauchen.“

‘KEINE WAFFE, DIE GEGEN DICH GEBILDET SEIN WIRD, SOLL ERFOLG HABEN’

Während all der Jahre, in denen treue Kolporteure und andere Bibelforscher eifrig die gute Botschaft verkündigten, hat Satan, der Teufel, nie nachgelassen oder aufgehört zu versuchen, sie zu unterdrücken und zu vernichten. Dies wäre ihm auch gelungen, hätte Gott sie nicht beschützt (1. Petr. 5:8, 9; Hebr. 2:14). Sie erkannten, wie wahr Gottes Verheißung gegenüber seinem Volk der alten Zeit war: „Welche Waffe es auch immer sei, die gegen dich gebildet sein wird, sie wird keinen Erfolg haben, und welche Zunge es auch immer sei, die sich im Gericht gegen dich erheben wird, du wirst sie verurteilen“ (Jes. 54:17).

Jesus Christus wurde verfolgt, und seine Nachfolger können erwarten, von Anhängern der falschen Religion und von der Welt im allgemeinen genauso behandelt zu werden (Joh. 15:20). Manchmal jedoch kamen Satans Angriffe von innen und gingen von skrupellosen Personen innerhalb der Christenorganisation aus und entwickelten sich aus Vorfällen in Verbindung mit Personen, die wirklich „nicht von unserer Art“ waren (1. Joh. 2:19).

Man wird sich daran erinnern, daß sich C. T. Russell in den 1870er Jahren von N. H. Barbour, dem Herausgeber der Zeitschrift The Herald of the Morning, trennte. Er tat dies, weil Barbour die biblische Lehre vom Lösegeld leugnete, für die Russell standhaft eintrat. Skrupellos versuchten dann Anfang der 1890er Jahre gewisse prominente Personen in der Organisation, die Macht über die Gesellschaft an sich zu reißen. Die Verschwörer planten, regelrechte „Bomben“ zum Platzen zu bringen, um der Beliebtheit Russells ein Ende zu machen und ihn als Präsidenten der Gesellschaft auszuschalten. Nachdem sich die Verschwörung nahezu zwei Jahre lang zusammengebraut hatte, brach sie im Jahre 1894 aus. Die Beschwerden und falschen Anklagen drehten sich hauptsächlich darum, daß C. T. Russell in seinem Geschäftsgebaren angeblich unehrlich gewesen sei. Tatsächlich waren einige Anklagen sehr geringfügig, und sie verrieten die wahre Absicht der Ankläger, nämlich C. T. Russell zu diffamieren. Unparteiische Mitgläubige untersuchten die Angelegenheiten und fanden, daß Russell im Recht war. Daher war der Plan der Verschwörer, „Mr. Russell und sein Werk in die Luft zu jagen“, ein kompletter Fehlschlag. Wie der Apostel Paulus, so hatte auch Bruder Russell Schwierigkeiten durch „falsche Brüder“, aber man erkannte diese Versuchung als einen Anschlag Satans, und die Verschwörer wurden als ungeeignet betrachtet, sich weiterhin der christlichen Gemeinschaft zu erfreuen (2. Kor. 11:26).

Damit waren natürlich C. T. Russells Prüfungen und Schwierigkeiten nicht zu Ende. Durch Umstände in seinem eigenen Haus sollte er noch ganz persönlich berührt werden. Während der Schwierigkeiten im Jahre 1894 unternahm Mrs. Russell (geborene Maria Frances Ackley, die Russell 1879 geheiratet hatte) eine Reise von New York nach Chicago, besuchte unterwegs Bibelforscher und sprach zugunsten ihres Gatten. Sie war eine gebildete und intelligente Frau und wurde daher gut aufgenommen, als sie damals die Versammlungen besuchte.

Mrs. Russell war ein Vorstandsmitglied der Watch Tower Society und diente einige Jahre lang als Sekretär und Kassierer. Außerdem schrieb sie regelmäßig Beiträge für die Spalten von Zions Wacht-Turm und war eine Zeitlang Mitherausgeber der Zeitschrift. Schließlich suchte sie ein größeres Mitspracherecht im Hinblick auf das, was im Wacht-Turm veröffentlicht werden sollte. Dieser Ehrgeiz war vergleichbar mit dem Ehrgeiz Mirjams, Moses’ Schwester, die sich gegen ihren Bruder, den von Gott eingesetzten Führer Israels, erhob und versuchte, in eine prominentere Stellung zu gelangen — ein Bestreben, das ihr Gottes Mißbilligung eintrug (4. Mose 12:1-15).

Wie kam Mrs. Russell zu dieser Einstellung? „Später erfuhr ich auch“, schrieb C. T. Russell im Jahre 1906, „daß gleichzeitig der Versuch gemacht worden war, meiner Frau den Samen der Disharmonie mittels ,Frauenrechts‘gedanken und Schmeicheleien ins Herz zu säen. Durch Gottes Vorsehung wurde mir bei dieser Erschütterung [im Jahre 1894] die Demütigung erspart, auch meine Frau unter den Verschwörern zu finden. ... Als es anfing, ruhiger zu werden, traten ,Frauenrechts‘gedanken und persönlicher Ehrgeiz wieder hervor, und ich sah, daß Mrs. Russells rege Tätigkeit zu meiner Verteidigung und die sehr herzliche Aufnahme, die ihr von den lieben Freunden damals auf einer Rundreise zuteil geworden war ..., ihr geschadet hatten, indem die Wertschätzung ihrer eigenen Person größer geworden war. ... Allmählich schien sie zu der Schlußfolgerung gekommen zu sein, daß nichts mehr ganz recht sei für den Wacht-Turm, außer was sie geschrieben hatte, und ich wurde beständig mit Vorschlägen von Abänderungen in meinen Artikeln belästigt. Es schmerzte mich, diese wachsende Neigung wahrzunehmen, so ganz verschieden von dem demütigen Sinn, der sie in den ersten dreizehn glücklichen Jahren charakterisiert hatte.“

Mrs. Russell erschwerte sehr die Zusammenarbeit, und das gespannte Verhältnis blieb bestehen. Aber Anfang 1897 wurde sie krank, und ihr Mann kümmerte sich sehr viel um sie. Er tat dies liebevoll und glaubte, seine freundliche Fürsorge würde ihr Herz rühren und ihr früheres zartes, liebes Wesen wiederherstellen. Sobald sich Mrs. Russell erholt hatte, berief sie jedoch ein Komitee ein und traf sich mit ihrem Mann, „hauptsächlich, damit die Brüder mir sagten, daß sie auf die Spalten des Wacht-Turms ein gleiches Recht habe wie ich und daß ich ihr in der Verweigerung der verlangten Freiheit unrecht tue“, schrieb C. T. Russell. Der Ausgang der Sache war, daß das Komitee ihr mitteilte, weder sie noch andere Personen hätten das Recht, in Bruder Russells Verwaltung des Wacht-Turms einzugreifen. Mrs. Russell sagte darauf, kurz gesagt, sie könne zwar nicht mit dem Komitee übereinstimmen, wolle aber versuchen, die Dinge vom Standpunkt des Komitees aus anzusehen. Russell berichtete weiter: „Ich fragte sie dann in ... Gegenwart [des Komitees], ob sie mir die Hand reichen würde. Sie zögerte, gab mir aber schließlich ihre Hand. Dann sagte ich: ,Nun, meine Geliebte, gibst du mir auch einen Kuß als Zeichen für den Grad deiner Sinnesänderung, die du angedeutet hast?‘ Wiederum zögerte sie, aber schließlich gab sie mir einen Kuß und gab auch sonst in Gegenwart des Komitees den Beweis erneuter Liebenswürdigkeit.“

Somit küßten sich die Russells und versöhnten sich wieder. Später richtete C. T. Russell auf Verlangen seiner Frau eine wöchentliche Zusammenkunft „der Schwestern der Versammlung in Allegheny“ ein, die sie leitete. Das führte zu weiteren Schwierigkeiten — zu der Verbreitung von verleumderischen Bemerkungen über C. T. Russell. Aber auch diese Schwierigkeit wurde beigelegt.

Doch schließlich führte die wachsende Abneigung dazu, daß Mrs. Russell ihre Beziehungen zur Watch Tower Society und zu ihrem Mann löste. Ohne ihren Mann davon in Kenntnis zu setzen, trennte sie sich nach fast achtzehnjähriger Ehe im Jahre 1897 von ihm. Fast sieben Jahre lang lebten sie getrennt, und C. T. Russell besorgte ihr eine eigene Wohnung und unterstützte sie auch finanziell. Im Juni 1903 strengte Mrs. Russell einen Prozeß im Kreisgericht von Pittsburgh (Pennsylvanien) an, um sich gesetzlich trennen zu lassen. Im April 1906 kam der Fall vor Richter Collier und einer Jury zur Verhandlung. Fast zwei Jahre später, am 4. März 1908, wurde das Urteil gefällt, das mit „In Scheidung“ überschrieben war. Das Urteil lautete wie folgt: „Es wird jetzt angeordnet, geurteilt und entschieden, daß Maria F. Russell, die Klägerin, und Charles T. Russell, der Beklagte, von Tisch und Bett getrennt sein sollen.“ „Von Tisch und Bett getrennt“, so heißt es sowohl im Urteil als auch in den Eintragungen in der Prozeßliste, die der Gerichtsschreiber gemacht hat. Dies war eine gesetzliche Trennung. Es kam nie zu einer regelrechten Scheidung, wie einige irrtümlich behaupteten. Bouvier’s Law Dictionary (Banks-Baldwin Law Publishing Company, 1940) definiert diesen Vorgang als „eine gerichtliche Trennung, durch die beide Parteien getrennt werden und nicht zusammen leben oder den Beischlaf ausüben dürfen, durch die aber die Ehe selbst nicht aufgelöst wird (1 Bl. Com. 440)“ (Seite 314). Auf Seite 312 heißt es, dieser Vorgang „könnte passender als eine gesetzliche Trennung bezeichnet werden“.

C. T. Russell selbst verstand völlig, daß das Gericht keine regelrechte Ehescheidung ausgesprochen hatte, sondern daß es eine gesetzliche Trennung war. Im Jahre 1911 wurde er auf einer Vortragsreise durch Irland in Dublin gefragt: „Ist es wahr, daß du von deiner Frau geschieden bist?“ Über seine Antwort schrieb Russell: „ ‚Ich bin nicht von meiner Frau geschieden. Das Urteil des Gerichts lautete nicht auf Scheidung, sondern auf Trennung, und es wurde von einer verständnisvollen Jury gefällt, die erklärte, wir würden beide glücklicher sein, wenn wir getrennt lebten. Meine Frau hatte mich wegen seelischer Grausamkeit angeklagt, aber die einzige Grausamkeit, die mir nachgewiesen werden konnte, war meine Weigerung, sie bei einer Gelegenheit zu küssen, als sie es verlangte.‘ Ich versicherte meinen Zuhörern, daß ich die Anklage auf seelische Grausamkeit angefochten habe und daß meiner Ansicht nach keine Frau jemals besser von ihrem Mann behandelt worden sei. Der Applaus zeigte, daß die Zuhörer meinen Erklärungen glaubten.“

In dieser Hinsicht ist auch das bedeutsam, was sich bei C. T. Russells Beerdigung in Pittsburgh im Jahre 1916 ereignete. Anna K. Gardner, deren Erinnerungen ganz ähnlich sind wie die anderer Anwesender, erzählt uns dies: „Kurz vor der Beerdigungsfeier in der Carnegie Hall ereignete sich ein Vorfall, der die Lügen widerlegte, die in der Presse über Bruder Russell berichtet worden waren. Schon lange vor der Beerdigungsfeier war die Halle voll, und es war sehr ruhig, und dann sah man plötzlich, wie eine verschleierte Gestalt durch den Mittelgang zum Sarg ging und etwas darauf legte. Wer vorn saß, konnte sehen, was es war: ein Strauß Maiglöckchen, Bruder Russells Lieblingsblumen. Daran war ein Band befestigt mit der Aufschrift ,Für meinen geliebten Gatten‘. Es war Mrs. Russell. Sie waren nie geschieden, und dies war eine öffentliche Bestätigung.“

Man kann sich gut vorstellen, welchen Kummer und welche seelische Belastung diese häuslichen Prüfungen für C. T. Russell bedeuteten. In einem nichtdatierten handgeschriebenen Brief an Mrs. Russell schrieb er, als die Eheschwierigkeiten einen bestimmten Stand erreicht hatten, folgendes: „Wenn Dich dieser Brief erreicht, wird es gerade eine Woche her sein, daß Du den verlassen hast, dem Du vor Gott und Menschen versprachest, ihn zu lieben und ihm zu gehorchen und zu dienen, ,in Freud und Leid, bis daß der Tod euch scheide‘. Gewiß ist es wahr, daß ,Erfahrung ein guter Lehrmeister‘ ist. Nur sie hätte mich so von Dir, von der ich wirklich sagen kann, daß ich früher keine liebevollere und ergebenere Gehilfin hätte haben können, überzeugen können. Wärest Du anders gewesen, so hätte Dich der Herr — des bin ich gewiß — mir nicht gegeben. Alles, was er tut, ist gut. Ich danke ihm für die Fürsorge, die er mir in dieser Hinsicht erwiesen hat, und denke mit Freuden an die Zeit zurück, in der Du mich mindestens dreißigmal am Tag küßtest und mir wiederholt sagtest, daß Du nicht wüßtest, wie Du ohne mich leben könntest, und daß Du davor Angst hättest, ich würde zuerst sterben ... Und ich erinnere mich, daß Du mir einige dieser Liebesbezeigungen noch vor anderthalb Jahren gegeben hast, obwohl Deine Liebe vor einem Jahr bereits weniger glühend war — wegen Eifersucht und Argwohn, ungeachtet dessen, daß ich Dir versicherte, wie sehr ich Dich liebe, und dies hundertmal wiederholt habe und auch jetzt noch beteure.“

Russell glaubte, daß der große Widersacher damals seine Frau „fest im Griff“ hatte. Er schrieb: „Ich habe ernstlich zum Herrn für Dich gebetet“, und er versuchte auch, ihr zu helfen. Des weiteren schrieb er: „Ich will Dich nicht mit meinem Kummer belasten noch versuchen, Dein Mitgefühl zu erwecken, indem ich Dir schildere, was ich empfinde, wenn ich von Zeit zu Zeit Deine Kleider und andere Gegenstände betrachte, die mir lebhaft Dein früheres Wesen vor Augen führen, das so voller Liebe und Mitgefühl und Hilfsbereitschaft war — Christi Geist. Mein Herz ruft aus: ,Oh, wäre sie oder wäre ich doch in dieser glücklichen Zeit gestorben!‘ Aber anscheinend waren die Prüfungen und Erprobungen noch nicht genügend fortgeschritten. ... Oh, erwäge doch gebetsvoll, was ich Dir sagen will. Und sei versichert, daß meine größte und heftigste Sorge nicht die ist, daß ich für den Rest meines Lebens allein bleiben werde, sondern daß Du gefallen bist, meine Geliebte, daß Du für ewig verloren bist, soweit ich es sehen kann.“

NICHT UNSITTLICH

Als wäre die Belastung durch Russells Eheschwierigkeiten nicht genug, erdreisteten sich seine Feinde, unverschämte Anklagen gegen ihn zu erheben, um ihn als unsittlich hinzustellen. Diese absichtlichen Lügen drehten sich um die sogenannte „Quallengeschichte“. Im April 1906 bezeugte Mrs. Russell vor Gericht, eine gewisse Miss Ball habe ihr erzählt, C. T. Russell habe einmal zu ihr gesagt: „Ich bin wie eine Qualle. Ich schwimme dahin und dorthin, ich berühre diese und jene, und wenn sie darauf reagiert, nehme ich sie mir, wenn nicht, schwimme ich weiter zu anderen.“ Auf dem Zeugenstand bestritt C. T. Russell nachdrücklich die „Quallengeschichte“, und die ganze Angelegenheit wurde vom Gerichtsprotokoll gestrichen. „Was das Mädchen betrifft, das im Hause war“, belehrte der Richter die Geschworenen, „das gehört nicht zur Klage und hat nichts mit dem Fall zu tun, da es nicht vorgebracht wurde.“

Das Mädchen, um das es hierbei ging, war im Jahre 1888 als Waise zu den Russells gekommen, und es war damals etwa zehn Jahre alt. Sie behandelten das Mädchen wie ihr eigenes Kind, und es gab Mr. und Mrs. Russell jeden Abend vor dem Zubettgehen einen Gutenachtkuß (Gerichtsprotokoll, Seite 90 und 91). Mrs. Russell bezeugte, der angelastete Vorfall habe sich 1894 ereignet, als dieses Mädchen nicht älter als 15 Jahre gewesen sein konnte (Gerichtsprotokoll, Seite 15). Danach lebte Mrs. Russell noch drei Jahre mit ihrem Mann zusammen und war dann etwa sieben Jahre lang von ihm getrennt, bevor sie einen Prozeß um die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft anstrengte. In ihrer Scheidungsklage wurde diese Angelegenheit nicht erwähnt. Obwohl Miss Ball damals lebte und Mrs. Russell wußte, wo sie lebte, unternahm sie weder einen Versuch, sie als Zeugin anzuführen, noch wies sie eine Aussage von ihr vor. C. T. Russell selbst konnte Miss Ball nicht bitten, als Zeuge auszusagen, weil er nicht wußte oder ahnte, daß seine Frau diese Sache zur Sprache bringen würde. Außerdem war drei Jahre nach dem angelasteten Vorfall, als Mrs. Russell ein Komitee einberufen hatte, vor dem sie und ihr Mann bestimmte Meinungsverschiedenheiten besprachen, die „Quallengeschichte“ mit keinem Wort erwähnt worden. In dem Prozeß um die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft hatte Mrs. Russells Rechtsanwalt gesagt: „Wir klagen nicht wegen Ehebruchs.“ Und daß Mrs. Russell niemals glaubte, ihr Ehemann habe sich eines unsittlichen Verhaltens schuldig gemacht, geht ebenfalls aus dem Gerichtsprotokoll hervor (Seite 10). Ihr eigener Rechtsanwalt fragte sie: „Sie sind also nicht der Meinung, daß Ihr Mann des Ehebruchs schuldig ist?“ Sie antwortete: „Ich bin nicht der Meinung.“

Während der prüfungsvollen Zeit häuslicher Schwierigkeiten und der damit verbundenen Härten half Jehova Charles T. Russell durch seinen heiligen Geist. Gott benutzte Russell während dieser Jahre weiter in seinem Dienst, nicht nur, um Artikel für Zions Wacht-Turm zu schreiben, sondern auch, um sich anderer wichtiger Pflichten zu entledigen und drei Bände der Anbruchs-Serie (oder der Schriftstudien) zu schreiben. Wie ermutigend ist dies doch für Christen heute, die trotz verschiedener Prüfungen treu Gottes Willen tun! Besonders ermutigend für Jesu treue gesalbte Nachfolger sind folgende Worte von Jakobus: „Glücklich ist der Mann, der die Prüfung erduldet, denn nachdem er sich bewährt hat, wird er die Krone des Lebens empfangen, die Jehova denen verheißen hat, die ihn beständig lieben“ (Jak. 1:12).

WUNDERWEIZEN

Russells Feinde verwandten nicht nur seine Familienangelegenheiten, sondern auch andere Vorfälle als „Waffen“ gegen ihn. Zum Beispiel warfen sie ihm vor, er habe eine große Menge gewöhnlichen Weizensamen unter dem Namen „Wunderweizen“ zu 1 Dollar pro Pfund oder zu 60 Dollar pro Scheffel verkauft. Sie behaupteten, Russell habe daraus einen gewaltigen Verdienst für sich selbst erzielt. Doch diese Anschuldigungen waren völlig falsch. Wie sahen die Tatsachen aus?

Im Jahre 1904 bemerkte Mr. K. B. Stoner eine ungewöhnliche Pflanze in seinem Garten in Fincastle (Virginia). Es stellte sich heraus, daß es eine unbekannte Weizensorte war. Die Pflanze hatte 142 Halme, von denen jeder eine voll ausgereifte Ähre trug. Im Jahre 1906 bezeichnete er diese Pflanze als „Wunderweizen“. Schließlich kauften noch andere den Weizen, bauten ihn an und erzielten außerordentliche Erträge. Ja, der Wunderweizen gewann auf mehreren Landwirtschaftsausstellungen Preise. C. T. Russell interessierte sich sehr für alles, was mit den biblischen Prophezeiungen zusammenhing: „Die Wüstenebene wird voller Freude sein und blühen wie der Safran“ und „Das Land selbst wird seinen Ertrag geben“ (Jes. 35:1; Hes. 34:27), Am 23. November 1907 erstattete H. A. Miller, stellvertretender Landwirtschaftsberater der US-Regierung, dem Landwirtschaftsministerium Bericht über diesen von Mr. Stoner angebauten Weizen. Im ganzen Land nahm die Presse von diesem Bericht Notiz. Auch C. T. Russell wurde darauf aufmerksam, und so veröffentlichte er in Zions Wacht-Turm vom 15. März 1908, Seite 86 (deutsch: Oktober 1908, Seite 148) einige Pressekommentare und Auszüge aus dem Regierungsbericht. Im Anschluß daran gab er folgenden Kommentar: „Auch wenn nur die Hälfte des oben gegebenen Berichtes wahr sein sollte, so würde das von neuem beweisen, daß Gott wohl fähig ist, hinreichende Mittel zu schaffen für die ‚Zeiten der Wiederherstellung aller Dinge, von welchen Gott durch den Mund seiner heiligen Propheten von jeher geredet hat‘ (Apg. 3, 19-21).“

Mr. Stoner war kein Bibelforscher und kein Freund C. T. Russells, noch waren es die verschiedenen anderen Personen, die mit dem Wunderweizen experimentierten. Im Jahre 1911 jedoch spendeten die Wacht-Turm-Leser J. A. Bohnet aus Pittsburgh (Pennsylvanien) und Samuel J. Fleming aus Wabash (Indiana) der Watch Tower Bible and Tract Society etwa 30 Scheffel Wunderweizen und schlugen vor, er solle für 1 Dollar pro Pfund verkauft werden und der Erlös solle der Gesellschaft zukommen und für ihre religiöse Tätigkeit verwendet werden. Die Gesellschaft nahm den Weizen entgegen und verkaufte ihn. Die Bruttoeinnahmen betrugen etwa 1 800 Dollar. Russell selbst behielt nicht einen Pfennig von diesem Geld. Er veröffentlichte lediglich eine Erklärung im Wacht-Turm, die besagte, der Weizen sei gespendet worden und sei für 1 Dollar pro Pfund erhältlich. Die Gesellschaft selbst behauptete nichts über diesen Weizen, auch nicht, eigene Erfahrungen damit gemacht zu haben, und das dafür erhaltene Geld wurde als Spende für das christliche Missionswerk verwandt. Als andere diesen Verkauf kritisierten, wurde allen, die etwas von dem Weizen gekauft hatten, mitgeteilt, das Geld werde ihnen zurückerstattet, wenn sie nicht zufrieden seien. Tatsächlich wurde das für den Weizen eingegangene Geld ein Jahr lang zu diesem Zweck aufgehoben. Aber nicht einer verlangte eine Rückzahlung. Das Verhalten Bruder Russells und der Gesellschaft in Verbindung mit dem Wunderweizen war völlig korrekt und ehrlich.

Weil Charles Taze Russell die Wahrheit aus Gottes Wort lehrte, wurde er gehaßt und verleumdet, oft von der Geistlichkeit. Aber Christen in der Neuzeit kann eine solche Behandlung nicht überraschen, denn Jesus und seine Apostel wurden von religiösen Gegnern ebenso behandelt (Luk. 7:34).

‘JEHOVA WIRD SEIN VOLK NICHT IM STICH LASSEN’

Jehova ist ein treuer Gott. Der Prophet Samuel gab dem Volk Israel den Rat, Gott mit ganzem Herzen zu dienen, und erklärte dann: „Jehova wird sein Volk um seines großen Namens willen nicht im Stich lassen, weil Jehova es auf sich genommen hat, euch zu seinem Volk zu machen“ (1. Sam. 12:20-25).

Die Bibelforscher konnten bestimmt sagen, daß dies auf sie zutraf. Einige Erfahrungen, die sie zwischen 1914 und 1916 machten, brachten ihnen zum Beispiel Enttäuschung und Kummer. Doch Jehova bewahrte sein Volk; er verließ es nie (1. Kor. 10:13).

GROSSE ERWARTUNGEN

Damals gab es auch Gründe zur Freude. Jahrelang hatten Gottes Diener auf 1914 als auf das Jahr hingewiesen, das das Ende der Heidenzeiten kennzeichnen würde. Ihre Erwartungen sollten nicht enttäuscht werden. Am 28. Juli 1914 brach der Erste Weltkrieg aus, und während der 1. Oktober näher rückte, wurden immer mehr Nationen und Reiche in diesen Krieg verwickelt. Wie Jehovas christliche Zeugen aus ihrem Studium der Bibel wissen, endete die Zeitspanne der ununterbrochenen Weltherrschaft durch die Heiden im Jahre 1914, als Gottes himmlisches Königreich, dessen König Jesus Christus ist, geboren wurde (Offb. 12:1-5). Doch es gab auch andere Erwartungen hinsichtlich des Jahres 1914. Darüber schrieb Bruder A. H. Macmillan in seinem Buch Faith on the March: „Wie ich mich noch gut erinnern kann, begab sich Pastor Russell am 23. August 1914 auf eine Reise in den Nordwesten, entlang der pazifischen Küste bis in die Südstaaten und schließlich nach Saratoga Springs (New York), wo wir vom 27. bis 30. September einen Kongreß abhielten. Das war eine hochinteressante Zeit, weil einige von uns ernsthaft dachten, wir würden in der ersten Oktoberwoche in den Himmel kommen.“

Einige Bibelforscher waren fest überzeugt, 1914 in den Himmel zu kommen. „Wir dachten damals“, erzählt Schwester D. T. Kenyon, „daß der Krieg in Revolution und in Anarchie übergehen würde. Dann würden die Gesalbten oder die Geweihten sterben und verherrlicht werden. Eines Nachts träumte ich, daß die ganze Ekklesia (Versammlung) in einem Zug sitze und irgendwohin führe. Dann donnerte und blitzte es plötzlich, und auf einmal begannen alle Freunde um mich herum zu sterben. Ich dachte, das sei ganz in Ordnung, aber so sehr ich mich auch bemühte, ich konnte nicht sterben. Es war zum Verzweifeln! Dann starb ich ganz plötzlich, und ich fühlte mich sehr erleichtert und zufrieden. Ich erzähle dies nur, um zu zeigen, wie sicher wir waren, daß bald alles zu Ende sein würde, soweit es diese alte Welt betraf, und daß der Überrest der ,kleinen Herde‘ verherrlicht werden sollte (Luk. 12:32).“

Hazelle und Helen Krull erinnern sich noch, daß sich im Jahre 1914 am Mittagstisch im Bethel die Gespräche oft um das Ende der Heidenzeiten drehten. Sie erzählen, daß Bruder Russell von Zeit zu Zeit ausführliche Erläuterungen machte, zur Treue ermunterte und erklärte, die Zeitberechnung sei überprüft worden und scheine immer noch zu stimmen; er habe aber auch gesagt: „Wenn wir mehr erwarten, als die Bibel andeutet, dann müssen wir bereit sein, uns umzustellen und Herz und Sinn glaubensvoll auf Jehovas Wege zu richten und abzuwarten, wie er den Ausgang der damit verbundenen Ereignisse lenkt.“

Ein Vorfall, der sich im Jahre 1914 während eines Kongresses in Saratoga Springs ereignete, läßt erkennen, wie Bruder Macmillan darüber dachte, in jenem Jahr in den Himmel „heimzugehen“. Er schrieb: „Ich war gebeten worden, am Mittwoch (30. September) einen Vortrag über das Thema zu halten: ,Das Ende aller Dinge hat sich genaht, seid daher gesunden Sinnes, und seid wachsam im Hinblick auf Gebete‘. Nun, das war so richtig nach meinem Geschmack. Ich selbst glaubte es aufrichtig, daß die Kirche im Oktober ,heimgehen‘ werde. Während dieses Vortrages machte ich folgende unglückliche Bemerkung: ,Das ist wahrscheinlich der letzte öffentliche Vortrag, den ich je halten werde, denn wir werden bald heimgehen.‘ “

Am nächsten Morgen, am 1. Oktober 1914, unternahmen etwa fünfhundert Bibelforscher eine herrliche Dampferfahrt auf dem Hudson River von Albany nach New York. Am Sonntag sollte das Programm in Brooklyn eröffnet werden, wo der Kongreß zu Ende gehen sollte. Eine ganze Anzahl Delegierter übernachtete im Bethel, und natürlich waren die Mitarbeiter des Hauptbüros am Freitag, den 2. Oktober ebenfalls morgens am Frühstückstisch anwesend. Alle saßen bereits, als Bruder Russell den Speisesaal betrat. Wie üblich sagte er fröhlich: „Guten Morgen, alle zusammen!“ Aber dieser besondere Morgen war anders. Statt gleich zu seinem Platz zu gehen, klatschte er in die Hände und kündigte freudig an: „Die Zeiten der Nationen sind abgelaufen; die Tage ihrer Könige sind gezählt.“ „Wie wir alle klatschten!“ ruft Cora Merrill aus. Bruder Macmillan gestand: „Wir waren sehr aufgeregt, und es hätte mich nicht überrascht, wenn wir in jenem Augenblick aufgefahren wären und unsere Himmelfahrt begonnen hätten — aber natürlich ereignete sich nichts dergleichen.“ Schwester Merrill fügt hinzu: „Nach einer kurzen Pause sagte er [Russell]: ,Irgend jemand enttäuscht? Ich nicht. Alles geht ganz plangemäß!‘ Wieder klatschten wir Beifall.“

C. T. Russell machte einige Bemerkungen, aber es dauerte nicht lange, bis Bruder A. H. Macmillan Gegenstand der Aufmerksamkeit wurde. Gutmütig sagte Russell: „Wir werden einige Änderungen im Sonntagsprogramm vornehmen. Sonntagmorgen wird uns Bruder Macmillan um 10.30 Uhr einen Vortrag halten.“ Alle lachten herzhaft. Schließlich hatte Bruder Macmillan erst am Mittwoch vorher seinen, wie er dachte, wahrscheinlich „letzten öffentlichen Vortrag“ gehalten. „Nun“, schrieb A. H. Macmillan Jahre später, „da mußte ich an die Arbeit gehen und mir überlegen, was ich sagen wollte. Ich stieß auf Psalm 74:9: ,Unsere Zeichen haben wir nicht gesehen; da ist kein Prophet mehr, und da ist niemand bei uns, der weiß, wie lange.‘ Das war etwas ganz anderes. In diesem Vortrag versuchte ich, den Freunden zu zeigen, daß einige von uns vielleicht ein bißchen zu voreilig gewesen waren, als wir dachten, wir würden gleich in den Himmel kommen, und daß wir im Dienste des Herrn tätig bleiben sollten, bis er entscheiden würde, wann jemand von seinen anerkannten Dienern in den Himmel ,heimgenommen‘ würde.“

C. T. Russell hatte selbst vor privaten Spekulationen gewarnt. Zum Beispiel behandelte er im Wacht-Turm vom 1. Dezember 1912 (deutsch: Februar 1913) das Ende der Zeiten der Nationen und schrieb dann: „Endlich laßt uns ... [daran denken], daß wir uns weder bis Oktober 1914 noch bis Oktober 1915 oder bis zu irgendeinem anderen Datum geweiht [Gott hingegeben] haben, sondern ,bis in den Tod‘. Wenn aus irgendeinem Grunde der Herr es zugelassen haben sollte, daß wir die Prophezeiung falsch verstanden haben, so versichern uns die Zeichen der Zeit, daß das Mißverständnis kein großes sein kann. Und wenn des Herrn Gnade und Frieden auch in Zukunft mit uns gehen werden, wie es in der Vergangenheit geschehen ist, gemäß seinem Versprechen, so sollten wir gleich freudig gehen oder bleiben zu jeder Zeit und ausharren in seinem Dienst, entweder diesseits des Vorhanges oder jenseits [auf der Erde oder im Himmel], wie es unserem Meister am besten gefallen mag.“

Als das entscheidende Jahr 1914 anbrach, schrieb Russell im Wacht-Turm vom 1. Januar (deutsch: März 1914): „Wir vermögen die Zeitrechnungen nicht mit einer solch absoluten Sicherheit zu lesen wie die Lehren, denn die Zeit ist in der Bibel nicht so deutlich ausgedrückt wie die Grundlehren. Wir wandeln immer noch durch Glauben und nicht durch Schauen. Wir sind indessen nicht ungläubig, sondern wir glauben und warten. Wenn es sich später herausstellen sollte, daß die Herauswahl gegen Ende Oktober 1914 nicht verherrlicht ist, so werden wir uns mit dem Willen des Herrn zu begnügen suchen, welcher Art er auch immer sein mag.“

Somit gab es unter vielen Bibelforschern große Erwartungen hinsichtlich des Jahres 1914. Sie hatten aber auch durch den Wacht-Turm gesunden Rat erhalten. Tatsächlich glaubten einige Christen, sie würden im Herbst jenes Jahres in den Himmel kommen. „Aber“, sagt C. J. Woodworth, „der 1. Oktober 1914 kam und ging vorbei — und viele weitere Jahre nach diesem Datum vergingen —, und die Gesalbten befanden sich immer noch hier auf der Erde. Einige wurden verbittert und fielen von der Wahrheit ab. Diejenigen, die ihr Vertrauen auf Jehova setzten, sahen das Jahr 1914 als ein wirklich gekennzeichnetes Jahr an — als den ,Anfang vom Ende‘ —, aber sie erkannten auch, daß ihre frühere Vorstellung von der ,Verherrlichung der Heiligen‘, wie sie es nannten, verkehrt war. Sie verstanden jetzt, daß es für die treuen Gesalbten noch viel Arbeit zu tun gab — zu dieser Gruppe gehörte mein Vater [Clayton J. Woodworth].“

Aber die Enttäuschung darüber, im Jahre 1914 nicht in den Himmel zu kommen, war nur gering, verglichen mit den großen Erwartungen, die sich in Verbindung mit jenem Jahr erfüllten. Während der ersten sechs Monate des Jahres 1914 geschah nichts mit den Heidennationen, obwohl die Bibelforscher schon lange darauf hingewiesen hatten, daß die Heidenzeiten in jenem Jahr enden würden. Daher spotteten religiöse Führer und andere über C. T. Russell und die Watch Tower Society. Doch Jehova hatte sein Volk gewiß nicht verlassen oder zugelassen, daß es irregeführt worden wäre. Von seinem heiligen Geist angetrieben, setzten sie ihr Zeugniswerk fort und erwarteten das Ende der Heidenzeiten nicht vor dem Herbst jenes Jahres. Während die Monate vorbeigingen, wuchs die Spannung in ganz Europa, und doch wurde immer mehr über die Königreichsbotschaft gespottet. Als jedoch eine Nation nach der anderen in den Ersten Weltkrieg eintrat, änderte sich die Sachlage. Das Werk der christlichen Zeugen Jehovas wurde in den Blickpunkt gerückt.

Ein für diese Zeit typischer Pressekommentar erschien in der Zeitung The World, damals eine der führenden Zeitungen New Yorks. In ihrer Sonntagsausgabe vom 30. August 1914 erschien der Artikel: „Das Ende aller Königreiche im Jahre 1914“. Darin hieß es auszugsweise:

„Durch den Ausbruch des schrecklichen Krieges in Europa hat sich eine außergewöhnliche Prophezeiung erfüllt. Während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre haben die ,Internationalen Bibelforscher‘, die am besten als ,Millennium-Tagesanbruch-Leute‘ bekannt sind, durch ihre Prediger und durch die Presse der Welt verkündigt, daß der Tag der Rache, der in der Bibel prophezeit ist, im Jahre 1914 anbrechen würde. ,Blickt nach dem Jahre 1914 aus!‘ ist der Ruf von Hunderten reisender Evangelisten gewesen, die als Vertreter dieses befremdenden Glaubens landauf, landab zogen und die Lehre verkündigten, daß das ,Königreich Gottes herbeigekommen‘ sei ...

Pastor Charles T. Russell ist der Mann, der diese Auslegung der Heiligen Schrift seit dem Jahre 1874 vorgebracht hat. ... ,Angesichts der kraftvollen Bibelbeweise‘, so schrieb Pastor Russell im Jahre 1889, ,erachten wir es als eine feststehende Wahrheit, daß das endgültige Ende der Königreiche dieser Welt und die vollständige Aufrichtung des Königreiches Gottes am Ende des Jahres 1914 herbeigekommen sein werden.‘ ...

Indes zu sagen, daß die Drangsal im Jahre 1914 ihren Höhepunkt erreichen müsse, das war etwas Besonderes. Merkwürdigerweise — vielleicht, weil Pastor Russell nicht in dem Stil eines feurigen Erweckungspredigers, sondern mehr in dem eines sehr sachlichen höheren Mathematikers schreibt — hat die Welt im allgemeinen kaum von ihm Notiz genommen. Die Forscher drüben in seinem Brooklyner ,Tabernacle‘ sagen, daß dies zu erwarten gewesen sei, daß die Welt nie auf göttliche Warnungen gehört habe und nie darauf hören werde, bis der Tag der Drangsal vorüber sei ...

Und im Jahre 1914 bricht der Krieg aus, der Krieg, den alle befürchtet und von dem alle gedacht haben, er könne nicht Tatsache werden. Pastor Russell sagt nicht: ,Ich habe es euch gesagt‘, und er unterzieht die Prophezeiungen nicht einer Durchsicht, damit sie auf das gegenwärtige Geschehen passen. Er und seine Forscher begnügen sich damit, zu warten — zu warten bis zum Oktober, den sie als das eigentliche Ende des Jahres 1914 betrachten.“

Es ist wahr, die Bibelforscher kamen im Oktober des Jahres 1914 nicht in den Himmel. Aber zu dieser Zeit endeten die 2 520 Jahre dauernden Zeiten der Nationen. Und wie Jehovas Diener später besser verstanden, gab es nach dieser Zeit hier auf Erden noch eine Menge Arbeit zu tun in Verbindung mit dem Predigen der guten Botschaft von Gottes aufgerichtetem Königreich. Offensichtlich würden noch viele günstig auf die biblische Wahrheit reagieren. Diesbezüglich schrieb Russell im Wacht-Turm vom 15. Februar 1915 (engl.): „Es gibt gewisse Anzeichen, daß der Herr für sein gesamtes Volk, seine wachsamen Heiligen, zur gegenwärtigen Zeit noch ein großes Werk zu tun hat. ... Einige Kinder des Herrn scheinen von der Vorstellung besessen zu sein, daß ,die Tür verschlossen‘ ist und daß es keine weitere Gelegenheit zum Dienste gibt. Daher werden sie lässig im Werke des Herrn. Wir sollten keine Zeit damit verschwenden zu träumen, die Tür sei verschlossen! Es gibt Menschen, die die Wahrheit suchen — Menschen, die sich in der Finsternis befinden. Noch nie gab es eine Zeit wie die heutige. Noch nie waren so viele Menschen bereit, auf die gute Botschaft zu hören. In den vierzig Jahren der Ernte hat es keine solchen Gelegenheiten gegeben, die Wahrheit zu verkündigen, wie sie sich jetzt bieten. Durch den großen Krieg und die drohenden Zeichen der Zeit werden die Menschen aufgeweckt, und viele fangen jetzt an zu suchen. Daher sollten die Diener des Herrn sehr fleißig sein und mit all ihrer Kraft das tun, was ihre Hände zu tun finden.“

„ES IST NOCH EIN GROSSES WERK ZU TUN“

Im wesentlichen wurde Gottes Volk also ermuntert, standhaft zu bleiben und ‘im Werke des Herrn reichlich beschäftigt zu sein’ (1. Kor. 15:58). Ein weiterer Beweis dafür, daß Bruder Russell überzeugt war, daß Jehovas Diener noch ein großes Werk tun mußten, war ein Vorfall, den A. H. Macmillan Jahre später erzählte. C. T. Russell arbeitete jeden Morgen von 8 bis 12 Uhr in seinem Studierzimmer und bereitete Artikel für den Wacht-Turm vor und erledigte andere Schreibarbeiten und forschte in der Bibel. Macmillan schrieb: „In diesen Stunden begab sich nie jemand in die Nähe seines Studierzimmers, außer er wäre gerufen worden oder habe etwas sehr Wichtiges zu erledigen gehabt. An jenem Tag kam etwa fünf Minuten nach acht ein Stenograph die Treppe heruntergelaufen und sagte zu mir: ,Bruder Russell möchte dich im Studierzimmer sprechen.‘ Ich dachte: ,Was habe ich denn getan?‘ Schon am Morgen ins Studierzimmer gerufen zu werden bedeutete, daß es um etwas Wichtiges ging.“ Hören wir nun Bruder Macmillans weiteren Bericht:

„Als ich in das Studierzimmer kam, sagte er: ,Geh bitte ins Wohnzimmer durch, Bruder.‘ Das Wohnzimmer war mit dem Studierzimmer verbunden. Er sagte: ,Bruder Macmillan, bedeutet dir die Wahrheit heute noch genausoviel wie am Anfang?‘ Ich schaute ihn überrascht an. ,Du brauchst nicht überrascht zu sein‘, fuhr er fort, ,das war lediglich eine Suggestivfrage.‘ Dann schilderte er mir seinen Gesundheitszustand, und ich verstand genug von Diagnostik, um zu erkennen, daß er nicht mehr viele Monate leben würde, wenn er nicht entlastet würde. Er sagte: ,Nun, was ich dir sagen wollte, ist folgendes: Ich kann das Werk nicht mehr fortsetzen, und doch muß noch ein großes Werk, ja ein weltweites Werk durchgeführt werden.‘ ...

Ich entgegnete: ,Bruder Russell, was du da sagst, scheint mir irgendwie ungereimt zu sein.‘

,Was meinst du damit?‘ fragte er.

,Du sollst sterben, und dieses Werk soll dennoch weitergeführt werden?‘ erwiderte ich. ,Wenn du stirbst, werden wir die Hände in den Schoß legen und warten, bis wir auch in den Himmel kommen. Wir werden nichts mehr tun.‘

,Wenn du so denkst, Bruder‘, sagte er darauf, ,dann hast du die Streitfrage nicht erkannt. Dieses Werk ist nicht eines Menschen Werk. Ich bin für das Werk nicht wichtig. Das Licht scheint immer heller. Es ist noch ein großes Werk zu tun.‘ ...

Nachdem Bruder Russell mir das bevorstehende Werk beschrieben hatte, sagte er: ,Ich möchte nun, daß jemand hereinkäme und für mich die Verantwortung übernähme. Ich werde das Werk weiterhin leiten, aber ich kann mich seiner nicht mehr in dem Maße annehmen wie in der Vergangenheit.‘ Wir sprachen in diesem Zusammenhang darauf über verschiedene Personen. Als ich schließlich durch die Schiebetür auf den Flur hinaustrat, rief er mir nach: ,Noch einen Augenblick. Geh nun auf dein Zimmer, und lege diese Angelegenheit dem Herrn im Gebet dar, und komme dann wieder, und sage mir, ob Bruder Macmillan diese Aufgabe übernehmen möchte.‘ Dann machte er die Tür zu, ohne daß ich noch etwas hätte sagen können. Ich blieb wie betäubt stehen. Was konnte ich schon tun, um Bruder Russell bei seiner Arbeit zu helfen? Um eine solche Aufgabe zu erfüllen, mußte jemand doch einigermaßen geschäftstüchtig sein; ich wußte aber nur, wie man predigt. Dennoch überlegte ich mir die Angelegenheit, ging dann wieder zu ihm und sagte: ,Bruder Russell, ich werde mein möglichstes tun. Ich überlasse es dir, wo du mich einsetzen willst.‘ “

Überzeugt, daß Gottes Volk noch sehr viel Arbeit bevorstand, sagte C. T. Russell seinen engen Mitverbundenen, sie sollten sich darauf einstellen, daß ihre Zahl wachsen würde. Er nahm gewisse Änderungen vor, durch die die Organisation noch mehr vereint würde, und empfahl zukünftige Änderungen für den Fall, daß er sie nicht persönlich ausführen könnte. A. H. Macmillan wurde die Verantwortung für das Büro und das Bethelheim übertragen. Dann begab sich Russell trotz seiner schnell nachlassenden Gesundheit und trotz großer körperlicher Beschwerden im Herbst des Jahres 1916 auf eine vorher vereinbarte Vortragsreise.

DIE LETZTE REISE

Bruder Russell und sein Sekretär, Menta Sturgeon, brachen am 16. Oktober 1916 von New York auf und reisten über Kanada nach Detroit (Michigan). Die zwei Männer fuhren dann nach Chicago (Illinois) und darauf durch Kansas nach Texas. Russells Gesundheitszustand war so schlecht, daß sein Sekretär mehrmals für ihn als Redner einspringen mußte. Am Dienstag, den 24. Oktober hielt Russell in San Antonio (Texas) abends seinen letzten öffentlichen Vortrag, und zwar über das Thema „Die Welt in Brand“. Während dieses Vortrages mußte er dreimal die Bühne verlassen, und sein Sekretär sprang jedesmal für ihn ein.

Dienstagnacht fuhren Bruder Russell und sein Sekretär und Reisegefährte mit dem Zug in Richtung Kalifornien. Als kranker Mann blieb Russell den ganzen Mittwoch im Bett. Russells Reisegefährte griff einmal nach seiner Hand und sagte: „Ich habe noch keine Hand gesehen, die stärkere Schläge gegen die Glaubensbekenntnisse geführt hätte als diese.“ Russell entgegnete, daß er glauben müsse, sie würde keine Glaubensbekenntnisse mehr zerschlagen.

Die beiden Männer wurden einen Tag in Del Rio (Texas) aufgehalten, weil eine Brücke abgebrannt war und eine neue gebaut werden mußte. Am Donnerstagmorgen fuhren sie dann aus Del Rio ab. Freitagabend erreichten sie einen Knotenpunkt in Kalifornien und stiegen in einen anderen Zug um. Den ganzen Sonnabend litt Russell unter großen Schmerzen und war sehr geschwächt. Sie trafen am Sonntag, den 29. Oktober in Los Angeles ein, und dort hielt C. T. Russell am Abend seine letzte Ansprache vor einer Versammlung. Zu dieser Zeit war er schon so schwach, daß er den Vortrag nicht mehr stehend halten konnte. „Ich bedaure, nicht imstande zu sein, mit Kraft oder Macht zu sprechen“, sagte Russell. Darauf bat er den Vorsitzenden, das Rednerpult wegzunehmen und einen Stuhl zu bringen. Als er sich setzte, sagte er: „Entschuldigt bitte, daß ich mich setze.“ Er sprach etwa fünfundvierzig Minuten lang und beantwortete dann noch eine kurze Zeit lang Fragen. Dwight T. Kenyon berichtet über diese Begebenheit: „Ich hatte das Vorrecht, Bruder Russells letzten Vortrag in Los Angeles am 29. Oktober 1916 zu hören. Er war sehr krank und blieb während des Vortrages, den er über Sacharja 13:7-9 hielt, sitzen. Sein Abschiedstext, 4. Mose 6:24-26, hat mich tief beeindruckt.“

Russell erkannte, daß sein Gesundheitszustand nicht zuließ, die Reise fortzusetzen, und so beschloß er, die übrigen Verabredungen abzusagen und so schnell wie möglich ins Bethelheim nach Brooklyn zurückzukehren. Am Dienstag, dem 31. Oktober, war C. T. Russell am Rande des Todes. In Panhandle (Texas) stieg ein Arzt, der vorher telegrafisch gerufen worden war, kurz in den Zug, beobachtete Russells Zustand und erkannte die kritischen Symptome. Dann fuhr der Zug weiter. Kurz danach, am frühen Nachmittag des 31. Oktober 1916, starb der vierundsechzigjährige Charles Taze Russell in Pampa (Texas).

„GOTT STEHT NOCH AM STEUER“

Die vielen Prüfungen, die Charles Taze Russell durchmachte, seine Predigttätigkeit, seine Verantwortung als Redakteur und andere Pflichten hatten sehr an seiner Gesundheit gezehrt. Etwa zweiunddreißig Jahre lang hatte er als Präsident der Watch Tower Bible and Tract Society gedient. Wie berichtet wird, war er über eine Million Meilen als Vortragsredner gereist und hatte über 30 000 Predigten gehalten. Er hatte Bücher geschrieben, die insgesamt über 50 000 Seiten ausmachten, und hatte oft 1 000 Briefe im Monat diktiert, während er einen weltweiten Evangelisationsfeldzug leitete, in dem einmal 700 Redner mitwirkten. Außerdem hatte Russell persönlich das aufschlußreichste biblische Drama zusammengestellt, das je vorgeführt wurde, das Photo-Drama der Schöpfung.

Da Bruder Russell in dem Werk der Verkündigung der guten Botschaft eine solch prominente Rolle gespielt hatte, wurde er von vielen Bibelforschern sehr vermißt. „Als ich der Bethelfamilie am nächsten Morgen das Telegramm über seinen Tod vorlas“, berichtete A. H. Macmillan, „brach überall im Speisesaal ein Wehklagen aus.“ Unter Gottes Volk im allgemeinen waren die Reaktionen verschieden. Arden Pate, der zufällig Ordner im Majestic Theatre in San Antonio war, als C. T. Russell seinen letzten öffentlichen Vortrag hielt, bemerkt: „Einige sagten: ‚Das ist das Ende‘, und für sie war es das Ende, weil sie nicht erkannten, daß Jehova sein Volk führte, sondern zu sehr auf einen Menschen blickten.“ Bei Russells Beerdigungsfeier, die am Sonntag, den 5. November 1916 im Tempel in New York stattfand, sprachen eine Anzahl seiner engen Mitverbundenen über den großen Verlust, den sie erlitten hatten. Doch einige Redner ermahnten zur Treue. In der Carnegie Music Hall in Pittsburgh (Allegheny, Pennsylvanien) fand eine separate Beerdigungsfeier statt. Sie begann am 6. November um 14 Uhr, und am Abend jenes Tages wurde Russell auf den Vereinigten Rosemont-Friedhöfen in Allegheny auf dem Grundstück der Bethelfamilie bestattet.

Bei der Beerdigungsfeier am Vormittag in New York erzählte A. H. Macmillan von der Besprechung, die Bruder Russell kurz vor seinem Tod mit ihm gehabt hatte, und er erwähnte auch bestimmte Schritte, die Russell in Verbindung mit der Arbeit im Hauptbüro der Gesellschaft unternommen hatte. Dann erklärte Macmillan unter anderem: „Das vor uns liegende Werk ist groß, aber Gott wird uns die nötige Gnade und Kraft verleihen, um es auszuführen. ... einige mattherzige Arbeiter könnten denken, daß jetzt die Zeit gekommen sei, unsere Erntewerkzeuge hinzulegen und zu warten, bis der Herr uns heimrufe. Jetzt ist nicht die Zeit, auf solche zu hören, die matt sind. Jetzt ist eine Zeit zum Handeln, zu einem entschiedeneren Handeln denn je zuvor.“

Gegen Ende seiner Ansprache bei der Feier am Abend sagte J. F. Rutherford: „Meine geliebten Brüder — sowohl wir, die wir hier sind, als auch alle anderen auf der Erde —, was sollen wir tun? Sollen wir in unserem Eifer für die Sache unseres Herrn und Königs nachlassen? Nein! Mit seiner Gnade wollen wir unseren Eifer und unsere Energie vergrößern, um unseren Lauf mit Freuden zu beenden. Wir wollen uns nicht fürchten, noch wollen wir straucheln, sondern wir wollen Schulter an Schulter stehen, kämpfend für den Glauben, und uns unseres Vorrechtes erfreuen, die Botschaft von seinem Königreiche zu verkündigen.“

Beachtenswert waren auch die Bemerkungen des Sekretär-Kassierers der Gesellschaft, W. E. Van Amburgh. Bei Russells Beerdigungsfeier erklärte er: „Dieses große, weltweite Werk ist nicht das einer Person. Dafür ist es viel zu groß. Es ist Gottes Werk und unterliegt keinem Wechsel. Gott hat viele Diener in der Vergangenheit gebraucht, und er wird es auch in der Zukunft tun. Wir haben uns nicht einem Menschen oder dem Werk eines Menschen geweiht, sondern dazu, den Willen Gottes zu tun, wie er ihn uns durch sein Wort und durch seine göttlich vorsehende Führung offenbaren wird. Gott steht noch am Steuer.“

Für Gottes Diener waren dies wirklich schwere Tage. Doch sie schauten zu Jehova um Hilfe auf (Ps. 121:1-3). Gott würde anderen größere Verantwortung in seiner Organisation übertragen. Das Predigtwerk würde weitergehen.

Jehovas Diener waren gerade durch eine prüfungsreiche Zeit gegangen, aber es lagen noch kritische Jahre vor ihnen. Mit dem Tode C. T. Russells am 31. Oktober 1916 fehlte der Watch Tower Society ein Präsident. Bis zur Jahresversammlung am 6. Januar 1917 verwaltete ein Exekutivkomitee die Angelegenheiten der Gesellschaft. In dieser Zeit kam natürlich die Frage auf, wer der nächste Präsident sein würde. Eines Tages fragte Bruder Van Amburgh A. H. Macmillan: „Bruder, wie denkst du darüber?“ „Es gibt nur einen, ob es dir gefällt oder nicht“, erwiderte Macmillan. „Es gibt nur einen Mann, der jetzt die Verantwortung für dieses Werk übernehmen kann, und das ist Bruder Rutherford.“ Darauf ergriff Bruder Van Amburgh Macmillans Hand und sagte: „Ich bin auf deiner Seite.“ J. F. Rutherford wußte nichts davon und warb auch nicht um Stimmen. Aber auf der Jahresversammlung am 6. Januar 1917 wurde er zum Präsidenten der Watch Tower Society vorgeschlagen und gewählt.

Demütig nahm Bruder Rutherford seine neue Verantwortung an und hielt bei dieser Angelegenheit eine kurze Ansprache. Unter anderem sagte er: „Ich bedarf eurer vereinten Gebete, eurer tiefen Sympathie und uneingeschränkten Mitarbeit.“ Dann versicherte er ihnen: „Er, der uns bis hierher geführt hat, wird uns auch weiterführen. Laßt uns mutige Herzen haben, eine bereite Gesinnung und willige Hände sowie unbedingtes Vertrauen zu dem Herrn, indem wir zu ihm um Leitung aufblicken. Er wird uns sicher zum Siege führen. Indem wir heute unseren Bund mit ihm erneuern, miteinander verbunden in dem heiligen Bande christlicher Liebe, können wir vorwärtsschreiten und der Welt verkündigen: ,Das Königreich der Himmel ist nahe herbeigekommen!‘ “

RUTHERFORDS VERGANGENHEIT

Rutherford selbst war ein mutiger Kämpfer für die Wahrheit. Er wurde am 8. November 1869 im Verwaltungsbezirk Morgan (Missouri) geboren. Seine Eltern waren Baptisten. A. D. Schroeder berichtet uns, was er von Schwester Ross, der älteren Schwester Joseph Franklin Rutherfords, erfuhr: „Ihr Vater war ein frommer Baptist draußen in Missouri, wo die Familie lebte. Ihr jüngerer Bruder Joseph konnte nie an die Lehre der Baptisten über das ,Höllenfeuer‘ glauben. Schon bevor sie von der Wahrheit erfuhren, führte dies zu vielen hitzigen Debatten in der Familie. Ihr Bruder hatte schon immer feste Ansichten und ein tiefes Gerechtigkeitsempfinden. Von Jugend an wollte er Rechtsanwalt und Richter werden. Der Vater wollte, daß er auf der Farm blieb und kein College besuchte, um Jura zu studieren. Joseph mußte einen Freund finden, der ihm Geld lieh, damit er nicht nur eine Hilfskraft für die Farm seines Vaters bezahlen, sondern auch sein Jurastudium finanzieren konnte.“

Joseph Rutherford finanzierte seine Ausbildung selbst. Unter anderem wurde er ein Experte in Kurzschrift, und diese Fähigkeit kam ihm in späteren Jahren sehr zugute, denn sie ermöglichte es ihm, die Gedanken, die ihm für biblische Artikel und anderen Stoff in den Sinn kamen, schnell niederzuschreiben. Noch während seines Studiums wurde Joseph Rutherford Gerichtsstenograph. Das ermöglichte es ihm, seine Ausbildung bis zu Ende zu finanzieren, und er erlangte gleichzeitig praktische Erfahrung. Nach vollendeter akademischer Ausbildung arbeitete er zwei Jahre unter der Aufsicht von Richter E. L. Edwards. Mit zwanzig Jahren wurde Joseph Rutherford amtlicher Berichterstatter für die Gerichte des Vierzehnten Gerichtskreises in Missouri. Mit zweiundzwanzig wurde er im Staate Missouri als Anwalt zugelassen. Nach den Aufzeichnungen des Kreisgerichts in Cooper erhielt er seine Zulassung als Anwalt in jenem Staat am 5. Mai 1892. Rutherford begann in Boonville (Missouri) als Anwalt zu praktizieren, und zwar als Prozeßanwalt des Anwaltsbüros Draffen and Wright.

J. F. Rutherford diente später vier Jahre als Staatsanwalt in Boonville (Missouri). Noch später wurde er Sonderrichter in demselben Vierzehnten Gerichtsdistrikt von Missouri. In dieser Eigenschaft amtierte Rutherford als stellvertretender Richter, wenn der reguläre Richter nicht persönlich erscheinen konnte. Gerichtsprotokolle beweisen seine Ernennung zum Sonderrichter bei mehr als einer Gelegenheit. Daher wurde er als „Richter“ Rutherford bekannt.

Hazelle und Helen Krull erinnern sich daran, daß J. F. Rutherford einmal erzählte, wie sein Interesse an der von Jehovas Dienern verkündigten Wahrheit geweckt wurde. Sie erzählen uns: „Bei einem seiner Besuche schlug uns Bruder Rutherford vor, im Mondschein aufs Land hinaus zu spazieren. Während wir gingen, redete er, erzählte von seiner frühen Jugend und wie er begonnen habe, sich für die Wahrheit zu interessieren. Er wurde auf einer Farm aufgezogen, wollte aber Jura studieren. Sein Vater meinte, seine Hilfe würde auf der Farm benötigt, war aber schließlich einverstanden, ihn gehen zu lassen, wenn er seine Ausbildung selbst finanziere sowie eine Hilfskraft bezahle, die seinen Platz auf der Farm einnehmen sollte. Während der Semesterferien im Sommer verkaufte er Bücher, um seine Vereinbarung einzuhalten. ... Er faßte den Entschluß, wenn er praktizierender Rechtsanwalt werden würde und jemand in sein Büro käme, um Bücher zu verkaufen, würde er sie kaufen. Dieser Tag kam [im Jahre 1894], aber sein Kompagnon sprach mit dem Besucher. Es war eine ,Kolporteurin‘ — Schwester Elizabeth Hettenbaugh —, und sie bot drei Bände der Schriftstudien an. Sein Kompagnon war nicht daran interessiert und schickte sie [und ihre Mitkolporteurin, Schwester Beeler] fort. Bruder Rutherford, der gehört hatte, daß von Büchern die Rede war, und sich an seinen Entschluß erinnerte, kam aus seinem Privatbüro, rief sie zurück, nahm die Bücher und stellte sie zu Hause in seine Bibliothek, wo sie eine Zeitlang blieben. Als er sich eines Tages von einer Krankheit erholte, öffnete er eines der Bücher und fing an zu lesen. Das war der Beginn eines lebenslänglichen Interesses und eines nie aufhörenden Eifers und Dienstes für seinen Gott.“

In der unmittelbaren Nachbarschaft der Rutherfords hatten die Bibelforscher damals noch keine Zusammenkünfte. Clarence B. Beaty erzählt jedoch: „Von 1904 an wurden in unserer Wohnung Zusammenkünfte abgehalten. Schwester Rutherford und Richter Rutherford kamen aus Boonville (Missouri) zum Gedächtnismahl [zur Erinnerung an Christi Tod]. ... In unserer Wohnung nahm er zum erstenmal am Gedächtnismahl teil, und dort hielt er auch seine erste Ansprache als Pilgerbruder an die Brüder. Außer ihnen selbst war sonst niemand in Boonville in der Wahrheit.“

Aber wie wurde J. F. Rutherford veranlaßt, die gute Botschaft zu predigen? Nun, A. H. Macmillan war hauptsächlich dafür verantwortlich. Macmillan traf Rutherford im Jahre 1905 in Kansas City, als er sich mit Bruder Russell auf einer Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten befand. Ein wenig später unterbrach Bruder Macmillan seine Reise, um Richter Rutherford für ein oder zwei Tage zu besuchen. Die Unterhaltung zwischen ihnen verlief etwa wie folgt:

„Herr Richter, Sie sollten hier die Wahrheit predigen.“

„Ich bin kein Prediger. Ich bin Jurist.“

„Nun, Herr Richter, ich werde Ihnen sagen, was Sie tun können. Sie nehmen die Bibel, laden einige Leute ein und sprechen dann zu ihnen über das Leben, den Tod und das Jenseits. Zeigen Sie ihnen, von wem wir das Leben erhalten haben, warum wir sterben müssen und was der Tod bedeutet. Führen Sie die Bibel als Zeugen an, und schließen Sie dann mit den Worten ab: ,Das ist alles, was ich zu sagen habe’, wie Sie es bei einer Gerichtsverhandlung vor den Geschworenen tun würden.“

„Das hört sich gar nicht schlecht an.“

Was geschah danach? Befolgte Rutherford diesen Rat? Bruder Macmillan berichtete: „Auf einer kleinen Farm am Stadtrand, unweit von seiner Stadtwohnung, arbeitete ein Farbiger, den er kannte. Etwa fünfzehn bis zwanzig Farbige waren auf dieser Farm beschäftigt. Dahin ging er eines Tages und hielt diesen Leuten eine Predigt über das Thema ,Leben, Tod und das Jenseits‘. Während seiner Ausführungen unterbrachen ihn seine Zuhörer immer wieder mit den Worten: ,Der Herr sei gepriesen! Woher wissen Sie das alles, Herr Richter?‘ Er erlebte dort viel Freude. Das war sein erster biblischer Vortrag.“

Nicht lange danach, im Jahre 1906, symbolisierte J. F. Rutherford seine Hingabe an Jehova Gott. Bruder Macmillan schrieb: „Ich hatte das Vorrecht, ihn in Saint Paul (Minnesota) zu taufen. Er war eine der 144 Personen, die ich an jenem Tag persönlich im Wasser taufte. Als er Präsident der Gesellschaft wurde, war ich daher besonders erfreut.“

Im Jahre 1907 wurde Rutherford Rechtsberater der Watch Tower Society und begann seinen Dienst im Hauptbüro in Pittsburgh. Er hatte das Vorrecht, die Verhandlungen zu führen, als die Gesellschaft im Jahre 1909 ihre Tätigkeit nach Brooklyn (New York) verlegte. Um dies tun zu können, beantragte er, im Bundesstaat New York als Rechtsanwalt zugelassen zu werden, und so wurde er in jenem Staat ein anerkannter Rechtsanwalt. Am 24. Mai des gleichen Jahres wurde Rutherford als Anwalt am Obersten Bundesgericht der Vereinigten Staaten zugelassen.

J. F. Rutherford hielt häufig Ansprachen als Pilgerbruder und reisender Vertreter der Watch Tower Society. Oft reiste er als Vortragsredner durch die Vereinigten Staaten und sprach auf Wunsch in vielen Colleges und Universitäten, und er hielt auch in ganz Europa vor großen Zuhörermengen Vorträge. Rutherford besuchte Ägypten und Palästina und reiste mit seiner Frau im Jahre 1913 nach Deutschland, wo er zu insgesamt 18 000 Zuhörern sprach.

SEIN CHARAKTER

Jesus Christus sagte, alle seine Nachfolger seien „Brüder“ und ‘der Größte unter ihnen solle ihr Diener sein’ (Matth. 23:8-12). Daher mißt kein wahrer Christ irgendeinem Mitgläubigen ungebührliche Bedeutung zu. Aber in der Bibel wird der Charakter verschiedener Diener Gottes beschrieben. Moses zum Beispiel war für seine Sanftmut bekannt, Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, für ihre feurige Begeisterung (4. Mose 12:3; Mark. 3:17; Luk. 9:54). Da Joseph F. Rutherford in Gottes irdischer Organisation mit viel Verantwortung betraut war, ist es interessant, seinen Charakter und seine Eigenschaften etwas näher zu beleuchten.

„Rutherford bekundete immer eine tiefe christliche Liebe zu seinen Gefährten“, sagte A. H. Macmillan, „und er war sehr gutherzig; aber er hatte von Natur aus nicht ein so sanftes, ruhiges Wesen wie Russell. Er war direkt und offen und verbarg seine Gefühle nicht. Seine Offenheit, selbst wenn er in Güte sprach, wurde manchmal mißverstanden. Aber er war erst kurze Zeit Präsident, als es offensichtlich wurde, daß der Herr den rechten Mann für diese Stelle erwählt hatte.“

Einen weiteren Einblick in die Persönlichkeit Rutherfords erhalten wir, wenn wir erfahren, was sich im alten „London Tabernacle“ der Bibelforscher ereignete, als er dort am 18. April 1924 die Gedächtnismahlansprache hielt. Darüber schreibt Schwester W. P. Heath: „Das Tabernacle war eine alte Episkopalkirche, die die Gesellschaft billig gekauft hatte, und sie wurde für die Sonntagszusammenkünfte benutzt, wie wir heute einen Königreichssaal benutzen. ... Der Platz für den Redner befand sich oben unter der Decke, etwa 6 Meter über dem Boden. Wenn er zur Zuhörerschaft sprach, war nur der Kopf zu sehen. Vielleicht bezeichnete Bruder Rutherford deshalb die Kanzel als ‚Pferdetrog‘. Er weigerte sich, von dort zu sprechen; ja, er schockierte die Brüder, indem er herunterkam und mit ihnen auf einer Ebene stand.“

Als Bruder Rutherford das Amt des Präsidenten der Watch Tower Society übernahm, benötigte er Mut, Treue und Entschlossenheit. Er besaß diese Eigenschaften. Zum Beispiel erinnert sich Esther I. Morris an eine Ansprache, die Rutherford als Pilgerbruder in dem damals größten Theater in Boise (Idaho) vor einer großen Zuhörerschaft hielt. Sie erzählt: „Durch seine Bloßstellung der falschen Religion wurde der Zorn mehrerer örtlicher Geistlicher erregt, die versuchten, die Ansprache zu unterbrechen und ihn herauszufordern. Aber er rief energisch: ,Setzen Sie sich! Ich fordere den Schutz des Gesetzes!‘ Und so konnte er den Vortrag fortsetzen. Bibelforscher aus anliegenden Städten kamen herbei, und wir mieteten einen Saal und veranstalteten so einen kleinen Kongreß. Er ließ äußerst nachdrücklich bekanntwerden, daß diese Botschaft und dieser Dienst nichts Geringes seien.“

Eine recht rührende Erinnerung an Bruder Rutherfords Wesen hat Anna Elsdon. Über ein Erlebnis in ihrer Jugend schreibt sie: „Wir wurden oft von Bruder Rutherford besucht. Bei einer Gelegenheit waren mehrere von uns jüngeren Leuten versammelt, und Bruder Rutherford kam zu uns herüber. Wir stellten ihm viele Fragen über die Schule, den Fahnengruß usw., und er unterhielt sich eine lange Zeit mit uns. Als er sich dann von uns verabschiedete, hielt er ganz liebevoll die Hände von uns fünf in seinen zwei großen Händen, und er hatte Tränen in seinen Augen. Er war so glücklich und gerührt darüber, daß wir trotz unserer Jugend über die tiefen Dinge der Wahrheit sprachen. Ich habe es nie vergessen. Genauso, wie Bruder Russell liebevoll war, spürten wir auch die Liebe dieses großen Bruders Rutherford.“

VORAN MIT DEM WERK!

Bruder Rutherford war entschlossen, mit dem Werk der Königreichsverkündigung voranzudrängen. Jahrelang hatten die Bibelforscher unter der Leitung des heiligen Geistes Jehovas einen bemerkenswert großen Feldzug zur Verkündigung des Wortes Gottes durchgeführt. Tatsächlich hatten sie in den Jahren 1870 bis 1913 228 255 719 Traktate und Flugschriften verbreitet und 6 950 292 gebundene Bücher. Allein in dem bedeutsamen Jahr 1914 verbreiteten Jehovas Diener 71 285 037 Traktate und Flugschriften und 992 845 gebundene Bücher. In den Jahren 1915 und 1916 jedoch ging die Tätigkeit zurück, weil sich der Erste Weltkrieg immer weiter ausbreitete und die Nachrichtenwege abgeschnitten wurden. Im Jahre 1917 zeigte das Werk allerdings wieder einen Aufwärtstrend. Warum?

Der neue Präsident der Gesellschaft reorganisierte sogleich das Brooklyner Hauptbüro. Außerdem unternahm er Anstrengungen, um das Predigtwerk wiederzubeleben. Diese Änderungen jedoch sowie die Programme, die er aufstellte, waren lediglich eine Fortsetzung dessen, was C. T. Russell schon begonnen hatte. Die Zahl der reisenden Vertreter der Gesellschaft, der Pilgerbrüder, wurde von 69 auf 93 erhöht. Außerdem wurden vermehrt kostenlose Traktate an gewissen Sonntagen vor Kirchen sowie regelmäßig von Haus zu Haus verbreitet. Ein neues vierseitiges Traktat, Der Schriftforscher, wurde veröffentlicht, und allein im Jahre 1917 wurden 28 665 000 Gratisexemplare verbreitet.

Auch wurde eine neue Tätigkeit verstärkt durchgeführt, die bereits vor C. T. Russells Tod begonnen hatte. Sie wurde „pastorales Werk“ genannt und war der Vorläufer der Rückbesuche, die Jehovas christliche Zeugen heute tätigen. Zur Zeit Russells war diese Tätigkeit auf etwa 500 Versammlungen beschränkt gewesen, die ihn freiwillig zu ihrem Pastor gewählt hatten. In einem Brief an diese Versammlungen hatte er dieses Werk als ein „wichtiges Werk“ beschrieben, „das geschehen kann in Verbindung mit Adressen, die bei öffentlichen Versammlungen, Photo-Drama-Vorführungen, aus Kolporteurlisten usw. erlangt werden können. Es sind Adressen von Personen, die vermutlich einiges Interesse an religiösen Dingen haben und wahrscheinlich für die Wahrheit mehr oder weniger zugänglich sein werden.“

Frauen in der Versammlung, die sich für die Teilnahme an diesem Werk interessierten, sollten jemanden aus ihrer Gruppe dazu bestimmen, die Leitung zu übernehmen, ferner jemanden für das Amt eines Sekretär-Kassierers. Eine Stadt wurde in Gebiete aufgeteilt, die den einzelnen Schwestern zugeteilt wurden, damit sie bei all denen vorsprächen, die als Interessierte bekannt waren. Die Schwestern liehen Bücher aus, die von den Interessierten gelesen und studiert werden sollten. „So konnte sich niemand damit entschuldigen, er habe kein Geld, denn die Bücher wurden kostenlos verliehen“, erklärt Esther I. Morris. Am Schluß des Besuches wurde dem Wohnungsinhaber mitgeteilt, daß in diesem Gebiet bald ein Karten-Vortrag über den „Göttlichen Plan“ gehalten würde, und wer Interesse zeigte, wurde dazu eingeladen. Danach wurden bei allen, die den Vortrag besuchten, Rückbesuche gemacht, in dem Bestreben, ein Studium anhand des ersten Bandes der Schriftstudien, betitelt Der Göttliche Plan der Zeitalter, einzurichten. Der Zweck dieses Programms bestand also darin, Personen in „Klassen“ zusammenzubringen, damit sie zuerst „Karten-Vorträge“ anhören und später geordnete Gruppen werden konnten, die „Beröer-Klassen“ genannt wurden (Apg. 17:10, 11).

Der neue Präsident der Gesellschaft, J. F. Rutherford, unternahm weitere Schritte, um das Predigtwerk wiederzubeleben. Der Kolporteurdienst wurde ausgedehnt. Dadurch stieg die Zahl der Kolporteure von 373 auf 461. Um ihnen zu helfen, begann die Gesellschaft im Jahre 1917, ein Blatt zu veröffentlichen, das „Bulletin“ genannt wurde. Es enthielt regelmäßig Dienstanweisungen aus dem Hauptbüro. Nach dem Oktober 1922 wurde das Bulletin allen Bibelforschern monatlich zugesandt. (Später wurde es Instruktor genannt, dann Informator und schließlich Königreichsdienst.) Schwester HGambill erläutert: „Es enthielt vorbereitete Zeugnisse, die wir ,Werbezeugnisse‘ nannten, und wir wurden ermuntert, sie uns einzuprägen und im Predigtdienst zu verwenden. Meine Schwägerin ... folgte mir dann immer auf Schritt und Tritt von Zimmer zu Zimmer und versuchte, jedes Wort genau mitzubekommen. So sehr wünschte sie, es genau auswendig zu lernen.“ Hinsichtlich der Tatsache, daß das Bulletin vorbereitete Zeugnisse enthielt, äußert sich Elizabeth Elrod: „Ich war dafür dankbar, denn wir hatten damals keine Vorkehrung, wie wir sie heute haben, daß jemand mit einem anderen zusammen ging, um ihn zu schulen und ihm zu helfen, ein produktiver Verkündiger zu werden. Auf diese Weise wurde die Botschaft, die verkündigt wurde, einheitlich gepredigt.“

Während der Auffrischungsfeldzug fortgesetzt wurde, unternahm die neue Verwaltung der Gesellschaft damals, im Jahre 1917, weitere Schritte. Zum Beispiel wurde eine Anzahl regionaler Kongresse abgehalten. Diese sollten dazu dienen, die Bibelforscher zu ermuntern, ihr Werk fortzusetzen und im Gutestun nicht müde zu werden.

Kurz vor 1914 hatte Russell besonders Nachdruck auf ein Programm öffentlicher Vorträge gelegt. Jetzt war es an der Zeit, dafür zu sorgen, daß weitere befähigte Redner die Watch Tower Society auf dem öffentlichen Podium vertreten konnten. Wie geschah dies? Man benutzte dazu ein besonderes Programm, die V. D. M.-Fragen. Diese Buchstaben sind eine Abkürzung der lateinischen Worte Verbi Dei Minister, was „Diener des Wortes Gottes“ bedeutet. Das Programm bestand aus einem Fragebogen, der sowohl Männern als auch Frauen, die mit den Versammlungen der Bibelforscher verbunden waren, zur Verfügung stand.

Hier folgen einige der Fragen, die auf dem V. D. M.-Fragebogen erschienen. Wie gut könntest du sie beantworten? 1. Was war die erste schöpferische Tätigkeit Gottes? 4. Welches ist die göttliche Strafe der Sünde für die Sünder, und wer sind die Sünder? 6. Welche Natur hatte der Mensch Christus Jesus von seiner Kindheit an bis zu seinem Tode? 7. Welche Natur hat Jesus seit seiner Auferstehung, und welches ist sein Amt bei Jehova? 13. Welches wird die Belohnung oder Segnung für die Welt für Gehorsam im Königreiche des Messias sein? 16. Hast Du Dich von der Sünde abgewandt, um dem lebendigen Gott zu dienen? 17. Hast Du Dein Leben, all Deine Kräfte und Talente dem Herrn und seinem Dienste geweiht? 18. Hast Du diese Weihung durch die Wassertaufe symbolisiert? 22. Glaubst Du, so viel und gründliche Kenntnis der Bibel zu haben, daß sie Dich während des Restes Deines Lebens mehr geeignet macht, ein Diener Gottes zu sein, als es vorher sein konnte?

Wer seine Antworten an die V. D. M.-Abteilung der Gesellschaft einsandte, erhielt eine Antwort zusammen mit „einigen freundlichen Ratschlägen und Hinweisen“ bezüglich seiner Antworten. Unter anderem wurde gewünscht, daß jeder die Fragen mit eigenen Worten beantwortete.

George E. Hannan gibt noch eingehendere Erläuterungen und schreibt: „Diese Fragen sollten als Anleitung dienen, um festzustellen, wie gut jemand die Grundlehren der Bibel verstand. Jede Gott hingegebene Person, die 85 Prozent der Fragen richtig beantwortete, wurde als lehrfähig betrachtet. All solche Brüder waren geeignet, öffentliche Vorträge und Karten-Vorträge zu halten. Durch diese Fragen wurden alle, die mit der Gesellschaft verbunden waren, ermuntert, die sechs Bände der Schriftstudien zu lesen und alle angeführten Schriftstellen nachzuschlagen.“

So kam es, daß J. F. Rutherford als neuer Präsident der Watch Tower Society unmittelbar Schritte unternahm, um das Werk der Verkündigung der guten Botschaft von Gottes Königreich zu beschleunigen. Gott segnete diese Bemühungen. Das Jahr 1917 erlebte eine vermehrte Predigttätigkeit zum Preise Jehovas Gottes.

„LASST EUCH DAS, WAS UNTER EUCH BRENNT ..., NICHT BEFREMDEN“

Doch nicht jeder innerhalb der Organisation zeigte sich erfreut, als J. F. Rutherford zum Präsidenten gewählt wurde. Einige suchten sogar — von Anfang des Jahres 1917 an —, die Verfügungsgewalt über die Gesellschaft ehrgeizig an sich zu reißen. Sie weigerten sich, weiterhin mitzuarbeiten; so begann eine Zeit der feurigen Erprobung. Christen erwarten zwar, von weltlichen Feinden bekämpft und verfolgt zu werden; doch Prüfungen, die in der christlichen Organisation ihren Ursprung haben, werden oft nicht erwartet und sind schwerer zu ertragen. Aber mit Gottes Hilfe können alle Schwierigkeiten von solcher Art ertragen werden. Petrus sagte seinen Mitgläubigen: „Geliebte, laßt euch das, was unter euch brennt und was euch als Prüfung widerfährt, nicht befremden, als ob euch etwas Befremdendes zustoße. Im Gegenteil, freut euch weiterhin, insofern ihr der Leiden des Christus teilhaftig seid“ (1. Petr. 4:12, 13).

Jehova und sein „Bote des Bundes“, Jesus Christus, kamen im Jahre 1918 u. Z., um den geistigen Tempel zu inspizieren. Darauf begann das Gericht am „Hause Gottes“, und eine Zeit der Läuterung und Reinigung setzte ein (Mal. 3:1-3; 1. Petr. 4:17). Noch etwas anderes geschah. Menschen, die die Merkmale eines „übelgesinnten Sklaven“ aufwiesen, traten hervor und begannen in sinnbildlicher Weise, ihre Mitsklaven zu „schlagen“. Jesus Christus hatte vorausgesagt, wie mit solchen Personen verfahren werden würde. Zugleich zeigte er, daß eine Klasse eines „treuen und verständigen Sklaven“, der geistige Speise austeilt, deutlich sichtbar sein würde (Matth. 24:45-51).

Man war damals sehr daran interessiert zu wissen, wer der „treue und verständige Sklave“ oder „treue und kluge Knecht“ (Elberfelder Bibel) sei. Lange zuvor, im Jahre 1881, hatte C. T. Russell geschrieben: „Wir glauben, daß jedes Glied dieses Leibes Christi entweder direkt oder indirekt an dem gesegneten Werke teilhat, dem Haushalt des Glaubens Speise zur rechten Zeit auszuteilen. ,Wer ist nun der treue und kluge Knecht, den sein Herr über sein Gesinde gesetzt hat, um ihnen Speise zu geben zur rechten Zeit?‘ Ist es nicht diese ‚kleine Herde‘ geweihter Diener, die ihre Weihegelübde treu erfüllen — der Leib Christi —, und ist es nicht der ganze Leib, als einzelne und als Gesamtheit, der dem Haushalt des Glaubens — der großen Menge der Gläubigen — Speise zur rechten Zeit austeilt?“

Demnach verstand man, daß der „Knecht“, den Gott gebrauchte, um geistige Speise auszuteilen, eine Gruppe war. Im Laufe der Zeit jedoch vertraten viele die Ansicht, daß C. T. Russell selbst der „treue und kluge Knecht“ sei. Dadurch gerieten einige in die Schlinge der Menschenverehrung. Sie dachten, jegliche Wahrheit, die Gott seinem Volke offenbaren wolle, wäre durch Bruder Russell gegeben worden und daß nichts darüber hinaus vorgebracht werden könne. Annie Poggensee schreibt: „Dies verursachte eine große Aussonderung derer, die mit den Werken Russells zurückbleiben wollten.“ Mit der verkehrten Ansicht, daß Russell selbst der „kluge und treue Knecht“ sei, wurde im Februar 1927 aufgeräumt.

Kurz nachdem Bruder Rutherford Präsident der Watch Tower Society geworden war, entwickelte sich eine regelrechte Verschwörung. Der Same der Rebellion war gesät worden, und nun breiteten sich die Schwierigkeiten aus, so, wie es im folgenden berichtet werden soll.

C. T. Russell hatte erkannt, daß es nötig war, jemand vom Hauptbüro nach Großbritannien zu schicken, um die Bibelforscher dort nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu stärken. Er hatte vor, Paul S. L. Johnson zu schicken, einen Juden, der die jüdische Religion aufgegeben hatte und ein lutherischer Geistlicher geworden war, bevor er die Wahrheit Gottes erkannt hatte. Johnson hatte als einer der reisenden Vortragsredner der Gesellschaft gedient und war wegen seiner Fähigkeiten sehr bekannt. Aus Achtung gegenüber dem Wunsch Russells sandte das Exekutivkomitee, das für kurze Zeit vor der Wahl Rutherfords zum Präsidenten diente, Johnson nach England, wobei ihm Papiere mitgegeben wurden, die ihm den Eintritt in das Land erleichtern würden. Er sollte soviel über das Werk in England zu erfahren suchen, wie er konnte, und dann einen ausführlichen Bericht an die Gesellschaft senden, aber er sollte keinerlei Änderungen in bezug auf die personelle Besetzung im englischen Zweigbüro vornehmen. Die Art und Weise jedoch, wie er im November 1916 in England empfangen worden war, schien sein Urteilsvermögen und schließlich auch seinen Verstand nachteilig beeinflußt zu haben, „bis“, wie A. H. Macmillan es feststellte, „er zu dem lächerlichen Schluß kam, daß er der ,Verwalter‘ im Gleichnis Jesu vom Groschen sei. Später dachte er, er sei der Hohepriester für die Welt.“ In Ansprachen vor Bibelforschern in ganz England bezeichnete sich Johnson selbst als Russells Nachfolger, wobei er behauptete, daß der Mantel Pastor Russells ihm zugefallen sei, ebenso, wie der Umhang (das „Amtsgewand“) Elias Elisa zugefallen sei (2. Kö. 2:11-14).

Offensichtlich hatte sich Johnsons Trachten sogar schon viel eher entwickelt, denn Edythe Kessler erinnert sich: „Ich verließ das Bethel im Jahre 1915, und vor meiner Heimfahrt nach Arizona besuchte ich ein paar alte Freunde, die ich schon seit Jahren kannte, und während ich dort war, hatten sie einen der Pilgerbrüder zu Gast, dessen Name P. S. L. Johnson war. Satan zeigte bereits seine häßlichen hinterhältigen Methoden, um die Gewalt an sich zu reißen, egal wie. Johnson sagte: ,Ich möchte gern mal mit dir reden. Wir wollen uns ins Wohnzimmer setzen.‘ Das taten wir. Er begann folgendermaßen: ,Schwester, wir wissen, daß Bruder Russell jeden Augenblick sterben kann, doch die Freunde brauchen sich nicht zu fürchten, wenn das eintritt. Ich kann seinen Platz ausfüllen und sofort alles übernehmen, ohne daß das Werk im geringsten unterbrochen würde.‘ “

Johnson versuchte während seines Aufenthalts in England, das Werk in Großbritannien völlig in seine Gewalt zu bringen, wobei er sogar versuchte, ohne dazu ermächtigt zu sein, einige der Glieder des Mitarbeiterstabes im Zweigbüro London zu entlassen. Dabei entstand so viel Verwirrung, daß sich der Zweigaufseher bei Bruder Rutherford beschwerte. Daraufhin ernannte Rutherford eine Kommission, bestehend aus einigen Brüdern in London, die nicht zum Mitarbeiterstab des Zweigbüros gehörten. Sie setzten sich zusammen, hörten sich die Tatsachen an, prüften sie und empfahlen dann, daß Johnson zurückgerufen werde. Rutherford wies Johnson an zurückzukehren. Doch statt dessen schickte Johnson Briefe und Telegramme, in denen er das Komitee der Voreingenommenheit bezichtigte und auch versuchte, seine Handlungsweise zu rechtfertigen. Um sich in Großbritannien unabkömmlich zu machen, mißbrauchte er die Vollmachten, mit denen die Gesellschaft ihn ausgestattet hatte, und ließ das Geld der Gesellschaft bei der Londoner Bank sperren. Später mußte man gerichtlich vorgehen, um diese Gelder wieder freizubekommen.

Schließlich kehrte Johnson nach New York zurück, wo er beharrlich versuchte, J. F. Rutherford dazu zu überreden, ihn nach England zurückzuschicken, doch ohne Erfolg. Johnson war der Überzeugung, daß er selbst Präsident der Gesellschaft sein sollte; er dachte, daß Rutherford nicht der geeignete Mann dafür sei. Er suchte den Vorstand zu beeinflussen. Johnson überredete 4 der 7 Vorstandsmitglieder, sich auf seine Seite zu stellen, indem er den Anschein erweckte, Bruder Rutherford sei als Präsident ungeeignet. Die vier gegnerisch gesinnten Vorstandsmitglieder widersetzten sich dem Präsidenten der Gesellschaft, dem Vizepräsidenten und dem Sekretär-Kassierer und versuchten, dem Präsidenten die Leitung aus den Händen zu reißen.

J. F. Rutherford hielt Zusammenkünfte mit den sich Widersetzenden ab und versuchte, vernünftig mit ihnen zu reden. A. H. Macmillan sagt, daß Rutherford „sogar zu einigen von uns kam und fragte: ,Soll ich als Präsident zurücktreten und die Gegner alles übernehmen lassen?‘ Wir alle antworteten: ,Bruder, der Herr hat dich dort hingestellt, wo du bist, und zurückzutreten oder aufzuhören wäre Untreue gegenüber dem Herrn.‘ Darüber hinaus drohte die Belegschaft des Büros damit, daß sie die Arbeit niederlegen würde, wenn diese Männer die Gewalt innehätten.“

Während einer verlängerten Sitzung der Jahresversammlung der Gesellschaft für das Jahr 1917 versuchten die vier andersdenkenden Vorstandsmitglieder, eine Resolution vorzulegen, die die Satzung der Gesellschaft verändert hätte. Ihr Ziel dabei war, die Gewalt in die Hände des Vorstands zu legen. Da dies sowohl der organisatorischen Handhabung widersprach, die während der Präsidentschaft Bruder Russells üblich war, als auch den Wünschen der Teilhaber, wies Rutherford diesen Antrag zurück, und der Plan war gescheitert. Danach wurde der Widerstand stärker, doch es traten einige Entwicklungen ein, die die Gegner nicht erwartet hatten.

„DAS VOLLENDETE GEHEIMNIS“

Während seiner gesamten Zeit als Präsident der Gesellschaft hatte Bruder Russell zusammen mit dem Vizepräsidenten und dem Sekretär-Kassierer die Entscheidungen über neue Publikationen getroffen. Der Vorstand war als Gruppe nicht zu Rate gezogen worden. Rutherford verfuhr ebenso. Daher trafen die drei Beamten der Gesellschaft bald eine weitreichende Entscheidung.

Charles Taze Russell hatte sechs Bände des Millennium-Tagesanbruchs oder der Schriftstudien geschrieben, doch er hatte oft davon gesprochen, einen siebenten Band zu schreiben. „Wann immer ich den Schlüssel finde“, sagte er, „werde ich den siebenten Band schreiben; und wenn der Herr den Schlüssel einem anderen gibt, kann er ihn schreiben.“ Die Beamten der Gesellschaft trafen Vorkehrungen, daß zwei Bibelforscher, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher, ein Buch zusammenstellen sollten, das aus Kommentaren zur Offenbarung, zum Hohenlied und zu Hesekiel bestehen sollte. Diese gemeinsamen Herausgeber trugen Material aus Bruder Russells Schriften zusammen, das unter dem Titel Das vollendete Geheimnis als der siebente Band der Schriftstudien veröffentlicht wurde. Da dieser Band größtenteils die Gedanken und Kommentare C. T. Russells enthielt, wurde er als „hinterlassenes Werk Pastor Russells“ bezeichnet.

Mitte des Jahres 1917 war die Zeit zur Veröffentlichung des neuen Buches gekommen. Man schrieb den 17. Juli. „Ich hatte gerade Dienst im Eßsaal (des Brooklyner Bethels), als das Telefon läutete“, sagt Martin O. Bowin. „Wir bereiteten gerade alles für die Mittagsmahlzeit vor. Da ich dem Telefon am nächsten war, hob ich ab. Am anderen Ende war Bruder Rutherford. ,Wer ist bei dir?‘ fragte er. Ich antwortete: ,Louis.‘ Er sagte, wir sollten schnell in sein Arbeitszimmer kommen, und fügte hinzu: ,Ihr braucht nicht anzuklopfen.‘ Wir bekamen einen Stapel Bücher mit dem Auftrag, eines auf jeden Platz zu legen und damit fertig zu sein, bevor die Familie zur Mittagsmahlzeit einträfe.“ Schon bald war der Eßsaal mit den Gliedern der Bethelfamilie gefüllt.

„Wie sonst auch“, so fährt Bruder Bowin fort, „wurde ein Gebet gesprochen. Doch dann ging es los! ... Angeführt von ... P. S. L. Johnson, ... begann die Demonstration gegen unseren lieben Bruder Rutherford. Lauthals boshafte Beschuldigungen ausstoßend, gingen sie auf und ab und hielten nur vor Bruder Rutherfords Tisch an, um ihm mit der Faust zu drohen und ihn noch mehr zu beschimpfen. ... So ging es ungefähr fünf Stunden lang. Dann standen alle auf. Das Geschirr und eine Menge unberührter Speisen standen immer noch auf dem Tisch, und die Brüder, die alles abräumen mußten, hatten nicht mehr viel Kraft, dies zu tun.“

Dieser Vorfall zeigte, daß einige Glieder der Bethelfamilie mit den Gegnern sympathisierten. Hätte dieser Widerstand angehalten, so wäre schließlich die gesamte Arbeit im Bethel unmöglich geworden. Daher handelte J. F. Rutherford, um die Angelegenheit zu bereinigen. Obwohl er selbst mit dem gesetzlichen Aufbau der Gesellschaft völlig vertraut war, hatte Rutherford einen bekannten Anwalt in Philadelphia (Pennsylvanien) wegen der Rechtsstellung des Vorstands der Gesellschaft um Rat gefragt. Das schriftliche Gutachten, das er daraufhin erhielt, offenbarte, daß diese vier Abtrünnigen keine gesetzlichen Glieder des Vorstands waren. Weshalb nicht?

C. T. Russell hatte diese Männer als Vorstandsmitglieder ernannt, doch die Satzung der Gesellschaft forderte, daß Vorstandsmitglieder durch eine Abstimmung der Teilhaber gewählt würden. Rutherford hatte Russell gesagt, daß die Ernannten durch eine Abstimmung während der nächsten Jahresversammlung in ihrem Amt bestätigt werden müßten, doch Russell hatte dies niemals getan. Daher waren nur die Beamten, die während der Jahresversammlung in Pittsburgh gewählt worden waren, rechtmäßige Mitglieder des Vorstands. Die vier Ernannten waren keine gesetzlichen Glieder dieses Vorstands. Rutherford wußte dies während der ganzen Zeit, doch er hatte es nicht erwähnt, da er hoffte, daß diese Mitglieder des Vorstands ihren Widerstand aufgeben würden. Ihre Haltung zeigte jedoch, daß sie nicht als Vorstandsmitglieder geeignet waren. Sie wurden daher zu Recht von Rutherford entlassen, und an ihrer Stelle wurden vier neue Mitglieder des Vorstands ernannt, deren Ernennung Anfang des Jahres 1918 bei der nächsten Jahresversammlung der Gesellschaft bestätigt werden konnte.

Bruder Rutherford verstieß die früheren Vorstandsmitglieder aber nicht einfach aus der christlichen Organisation. Statt dessen bot er ihnen Stellungen als Pilgerbrüder an. Sie lehnten dies ab, verließen von sich aus das Bethel und begannen, ihre Opposition in einem ausgedehnten Feldzug durch Reden und Briefe überall in den Vereinigten Staaten sowie in Kanada und Europa auszubreiten. Als Ergebnis bestanden nach dem Sommer des Jahres 1917 viele Versammlungen der Bibelforscher aus zwei Parteien — aus denen, die gegenüber Jehovas Organisation loyal waren, und anderen, die geistig schläfrig geworden und den glatten Reden der Gegner zum Opfer gefallen waren. Die letzteren weigerten sich zusammenzuarbeiten und wollten sich nicht an dem Werk des Predigens der guten Botschaft vom Königreich beteiligen.

LETZTE VERGEBLICHE VERSUCHE, DIE LEITUNG AN SICH ZU REISSEN

Die Oppositionsgruppe, die kurz zuvor das Bethel verlassen hatte, dachte, sie könnte die Leitung des Kongresses der Bibelforscher, der in Boston (Massachusetts) im August 1917 abgehalten wurde, an sich reißen. Mary Hannan, die bei diesem Kongreß mit dabei war, berichtet: „Da Bruder Rutherford wußte, was sie wollten, paßte er auf und gab ihnen keine Gelegenheit, während des Programms auf die Bühne zu kommen. Er diente während der ganzen Zeit als Vorsitzender.“ Der Kongreß war ein voller Erfolg zum Ruhme Jehovas, und die Gegner waren nicht in der Lage, ihn zu stören.

J. F. Rutherford wußte, daß die Jahresversammlung der Gesellschaft am 5. Januar 1918 den Abtrünnigen eine weitere Gelegenheit geben würde, die Gewalt an sich zu reißen. Er war sich ziemlich sicher, daß die Bibelforscher im allgemeinen einen solchen Schritt nicht befürworteten; doch würden sie keine Gelegenheit haben, ihre Meinung bei der Wahl kundzutun, da diese ausschließlich Sache der Mitglieder der gesetzlich eingetragenen Körperschaft, der Watch Tower Bible and Tract Society, war. Was konnte Rutherford daher tun? Er konnte allen Jehova hingegebenen Dienern eine Gelegenheit geben, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen. Daher schlug Der Wacht-Turm von 1. November 1917 (engl.) vor, daß in allen Versammlungen eine allgemeine Abstimmung durchgeführt werden sollte. Bis zum 15. Dezember hatten 813 Versammlungen ihre Stimmen eingesandt, und die Abstimmung zeigte, daß von 11 421 Stimmen insgesamt 10 869 für J. F. Rutherford als Präsidenten der Gesellschaft abgegeben worden waren. Unter anderem zeigte diese allgemeine Abstimmung auch, daß alle treuen Mitglieder des Vorstands, die nach der Umbesetzung im Juli 1917 dazugehörten, den Rebellen vorgezogen worden waren, die beanspruchten, Vorstandsmitglieder zu sein.

Die sieben Personen, die während der Jahresversammlung der Teilhaber am Samstag, dem 5. Januar 1918, die höchste Anzahl Stimmen erhielten, waren J. F. Rutherford, C. H. Anderson, W. E. Van Amburgh, A. H. Macmillan, W. E. Spill, J. A. Bohnet und George H. Fisher. Nicht einer der Gegner konnte sich einen Platz im Vorstand sichern. Aus den Reihen der rechtmäßig gewählten Vorstandsmitglieder wurden dann die Beamten der Gesellschaft gewählt, wobei J. F. Rutherford alle Stimmen für die Stellung des Präsidenten erhielt, Charles H. Anderson alle für die des Vizepräsidenten und W. E. Van Amburgh alle Stimmen für das Amt des Sekretär-Kassierers. Diese Männer waren daher ordnungsgemäß als Beamte der Gesellschaft gewählt worden. Der letzte Versuch der Gegner, die Leitung an sich zu reißen, war vollständig vereitelt worden.

Für die Treuen und die Gegner bestand jetzt keine Möglichkeit der Versöhnung mehr. Die Oppositionsgruppe bildete eine völlig getrennte Organisation, die von einem „Siebener-Komitee“ geleitet wurde. Mit Sicherheit war die Trennung am 26. März 1918 vollständig, als die Gegner das Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Tod Christi getrennt von den treuen Versammlungen des Volkes Gottes feierten. Die Einheit innerhalb der Oppositionsgruppe war jedoch nur von kurzer Dauer, denn auf ihrem Kongreß im Sommer 1918 entstanden Meinungsverschiedenheiten, die zu einer Spaltung führten. P. S. L. Johnson organisierte eine Gruppe, die ihr Hauptbüro in Philadelphia (Pennsylvanien) hatte, wo er The Present Truth and Herald of Christ’s Epiphany (Die gegenwärtige Wahrheit und der Verkündiger der Epiphanie Christi) herausbrachte. Dort blieb er bis zu seinem Tode, sich selbst als „der Erde großer Hoherpriester“ bezeichnend. Weitere Zwistigkeiten führten von 1918 an zu Spaltungen, bis die ursprüngliche Gruppe, die sich von der Watch Tower Society getrennt hatte, in eine Anzahl sich neu zersplitternder Sekten zerfiel.

Viele, die sich in den Jahren nach dem Tode C. T. Russells zurückzogen, leisteten ihren vorherigen christlichen Mitverbundenen keinen aktiven Widerstand. Einige kehrten zurück, bereuten ihre Taten und schlossen sich Gottes Volk wieder an. Dies war eine Zeit schwerer Prüfungen, wie es der Bericht von Mabel P. M. Philbrick zeigt: „Ich war sehr besorgt, als ich erkannte, daß mein eigener Vater und meine von mir sehr geliebte Stiefmutter, die die Hoffnung des himmlischen Erbes hatten, abfielen. Es kostete mich viel Anstrengung und viele Tränen, meine Fassung wiederzufinden, denn ich wußte sehr gut, daß jemand, der seine Krone verloren hatte, kein Leben zu erwarten hatte — nirgendwo. Der Gedanke, daß sie in den zweiten Tod gehen würden, war für mich unerträglich. Eines Tages jedoch tröstete mich Jehova im Gebet sehr, als ich voll und ganz zu wünschen begann, daß nur sein Wille allein geschehen sollte. Auf einmal verstand ich, daß seine Liebe und Gerechtigkeit weit großartiger waren als meine eigene und daß, wenn er sie nicht für würdig erachtete, Leben zu erlangen, ich ebenfalls nicht mehr auf ihrer Seite stehen konnte. Schließlich waren mein Vater und meine Mutter nicht anders als die Väter und Mütter anderer. Diese Erkenntnis half mir, meine innere Ruhe wiederzuerlangen.“

Diejenigen, die sich in jenen Tagen von Jehovas Dienern trennten, bildeten nicht nur Sekten, sondern in den meisten Fällen nahmen sie auch an Zahl ab, und ihre Tätigkeit wurde entweder bedeutungslos oder hörte völlig auf. Sie erfüllten sicher nicht den Auftrag Jesu, den er seinen Nachfolgern gegeben hatte, die gute Botschaft auf der ganze Erde zu predigen und Jünger zu machen (Matth. 24:14; 28:19, 20).

Wie viele verließen das wahre Christentum während der kritischen Jahre 1917 und 1918? Gemäß einem unvollständigen weltweiten Bericht besuchten am 5. April 1917 insgesamt 21 274 Personen das Gedächtnismahl zur Erinnerung an den Tod Jesu Christi. (Wegen der Schwierigkeiten innerhalb und außerhalb der Organisation im Jahre 1918 wurden in jenem Jahr keine Anwesendenzahlen gesammelt.) Ein Teilbericht für die Gedächtnismahlfeier am 13. April 1919 zeigte eine Anwesendenzahl von 17 961. Wenn diese Zahlen auch unvollständig sind, so zeigen sie doch, daß weit weniger als 4 000 Personen aufgehört hatten, mit ihren früheren Mitverbundenen im Dienste Gottes zu wandeln.

CHRISTEN IN DER FEUERPROBE

Von 1917 bis 1919 waren die Bibelforscher auch der Gegenstand einer internationalen Verschwörung, die insbesondere von der Geistlichkeit der Christenheit geschürt wurde. Das vollendete Geheimnis, der siebente Band der Schriftstudien, erweckte den Zorn der Kirche. Innerhalb von sieben Monaten nach der Herausgabe erfreute sich dieses Buch einer Verbreitung, die ohnegleichen war. Die Vertragsfirmen der Gesellschaft hatten viel zu tun, um die Auflage von 850 000 Exemplaren zu drucken. Ende des Jahres 1917 gab es das Buch auch in Schwedisch und Französisch, und die Übersetzung in weitere Sprachen war begonnen worden.

Am 30. Dezember 1917 wurde mit der Massenverbreitung von 10 000 000 Exemplaren einer neuen Ausgabe des vierseitigen Traktates in kleinem Zeitungsformat Der Schriftforscher begonnen. Es trug den Titel „Der Fall Babylons“ und hatte die Unterthemen „Das alte Babylon ein Vorbild“, „Mystisch-Babylon das Gegenbild“, „Warum die Christenheit jetzt leiden muß“, „Das Endergebnis“. Darin enthalten waren Auszüge aus dem siebenten Band mit einigen scharfen Hinweisen auf die Geistlichkeit. Auf der Rückseite erschien eine satirische Zeichnung, in der eine einstürzende Wand dargestellt wurde. Auf einige ihrer Steine waren Wörter geschrieben wie „Protestantismus“, „Höllenqualtheorie“, „Dreieinigkeitslehre“, „Apostolische Nachfolge“ und „Fegefeuer“. Das Traktat zeigte mit Belegen aus der Bibel, daß die große Mehrzahl der Geistlichen „untreue, illoyale, ungerechte Männer gewesen sind“, die mehr Verantwortung für den Krieg, der damals gerade im Gange war, und die großen Schwierigkeiten, die ihm folgen würden, trugen als irgendeine andere Gruppe von Menschen auf der Erde. In Verbindung mit dieser Traktat-Verteilungsaktion wurden am gleichen Tag weit und breit angekündigte öffentliche Vorträge über dasselbe Thema gehalten.

Was würdest du davon halten, ein Traktat wie dieses zu verbreiten? C. B. Tvedt räumt ein, daß er diesen Tag nie vergessen wird, und sagt dann: „Es war ein äußerst rauher, kalter Tag. Doch die Botschaft, die ich verbreitete, war ohne Zweifel glühend heiß. ... Ich mußte 1 000 von diesen Traktaten unter die Wohnungstüren schieben und gelegentlich auch direkt an Einzelpersonen, die ich traf, verteilen. Ich kann nicht leugnen, daß es mir lieber war, die Traktate unter die Tür zu schieben, denn ich erkannte, daß dies eine feurige Botschaft war und wie eine Bombe einschlagen würde.“

Ende des Jahres 1917 und Anfang des Jahres 1918 stieg die Verbreitung des Vollendeten Geheimnisses ständig an. Die verärgerte Geistlichkeit stellte die falsche Behauptung auf, daß einige Aussagen des Buches aufrührerisch seien. Sie war darauf aus, die Watch Tower Society zu „fassen“, und wie die jüdischen religiösen Führer zur Zeit Jesu wollte sie, daß der Staat das Werk für sie tue. (Vergleiche Matthäus 27:1, 2, 20.) Sowohl katholische wie auch protestantische Geistliche stellten die Bibelforscher so hin, als ständen sie im Dienste der deutschen Regierung. So sagte zum Beispiel ein Dr. Case von der Theologischen Fakultät der Universität Chicago über das Werk der International Bible Students Association, einer gesetzlichen Körperschaft des Volkes Gottes, in einer Veröffentlichung folgendes: „Um ihre Lehre zu verbreiten, werden wöchentlich zweitausend Dollar ausgegeben. Es ist nicht bekannt, woher das Geld kommt; doch es bestehen starke Verdachtsmomente, daß es aus deutschen Quellen stammt. Meines Erachtens würde es sich für die Regierung lohnen, der Herkunft dieses Geldbetrages nachzugehen.“

„Diese und ähnliche Beschuldigungen von anderen Geistlichen trugen offensichtlich ihren Teil dazu bei, daß Vertreter des Geheimdienstes der Armee die Bücher des Kassierers der Gesellschaft beschlagnahmten“ stand im Wacht-Turm (engl.) vom 15. April 1918. Weiter hieß es: „Die Behörden nahmen zweifellos an, sie würden Beweise finden, die die Anklage untermauern würden, daß unsere Gesellschaft für die deutsche Regierung arbeite. Natürlich enthielten die Bücher nichts Derartiges. Das gesamte Geld der Gesellschaft stammt von Personen, die daran interessiert sind, das Evangelium über Jesus Christus und sein Königreich zu verkündigen, und an nichts sonst.“ Zeitungsberichte, die im ganzen Land über die Beschlagnahme der Bücher der Gesellschaft erschienen, trugen dazu bei, Argwohn zu erregen.

Der 12. Februar 1918 war ein besonderes Datum für Gottes Volk in Kanada. An jenem Tage wurde die Watch Tower Society im ganzen Land verboten. In einer Pressemeldung hieß es: „Das Innenministerium hat gemäß der Pressezensur verordnet, Verfügungen zu erlassen, die in Kanada den Besitz einer Anzahl Publikationen verbieten, darunter das von der International Bible Students Association herausgegebene Buch, betitelt ,SCHRIFTSTUDIEN — Das vollendete Geheimnis‘, das allgemein als eine posthume Publikation Pastor Russells bekannt ist. Auch die Verbreitung des Schriftforschers, ebenfalls von dieser Vereinigung herausgegeben, und zwar von ihrem Büro in Brooklyn (New York), ist in Kanada verboten. Wer im Besitz irgendwelcher verbotener Bücher angetroffen wird, hat eine Höchststrafe von 5 000 Dollar und fünf Jahren Gefängnis zu gewärtigen.“

Warum das Verbot? Die in Winnipeg (Manitoba) erscheinende Tribune hellte die Angelegenheit durch folgenden Kommentar auf: „Von den verbotenen Publikationen wird gesagt, sie enthielten aufrührerische Äußerungen gegen den Krieg. Ehrwürden Charles G. Paterson, Pastor der St.-Stephen’s-Kirche, griff vor wenigen Wochen von der Kanzel herab gewisse Ausführungen aus einer der neuesten Ausgaben des Schriftforschers heftig an. Darauf ersuchte Staatsanwalt Johnson Pastor Paterson um ein Exemplar der Publikation. Man glaubt, die Verfügung der Zensur sei die direkte Folge davon.“

Der internationale Charakter der Verschwörung wurde kurz nach dem von der Geistlichkeit in Kanada angestifteten Verbot offenbar. Im Februar 1918 begann der Geheimdienst der Armee in New York eine Durchsuchung des Hauptbüros der Gesellschaft. Man hatte ihm nicht nur fälschlich mitgeteilt, daß die Gesellschaft mit dem Feind in Deutschland in Verbindung stand, sondern man hatte der Regierung der Vereinigten Staaten auch lügnerisch berichtet, daß das Hauptbüro der Gesellschaft in Brooklyn eine Zentrale zur Nachrichtenübermittlung an das Regime in Deutschland sei. Schließlich erschienen in der Presse Berichte, daß Regierungsbeauftragte einen Funkapparat beschlagnahmt hätten, der im Bethel aufgebaut und betriebsbereit gewesen sei. Was waren jedoch die Tatsachen?

Im Jahre 1915 hatte C. T. Russell ein kleines Empfangsgerät geschenkt bekommen. Er selbst war daran nicht allzu interessiert, doch man brachte eine kleine Antenne auf dem Dach des Bethels an und gab jüngeren Brüdern die Gelegenheit, den Gebrauch der Anlage zu erlernen. Sie waren jedoch nicht sehr erfolgreich im Auffangen von Botschaften. Kurz bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, wurde verfügt, daß alle Funkgeräte abgebaut werden sollten. So montierte man die Antenne ab, zersägte die Masten und verwendete sie für andere Zwecke, während der Apparat selbst sorgfältig verpackt im Atelier der Gesellschaft abgestellt wurde. Zu der Zeit, als ein Glied der Bethelfamilie zwei Angehörigen des Armee-Nachrichtendienstes in einem Gespräch von dem Gerät erzählte, war der Apparat schon über zwei Jahre lang überhaupt nicht mehr benutzt worden. Man führte die Männer auf das Dach und zeigte ihnen, wo er vorher aufgebaut worden war. Dann zeigte man ihnen das Gerät selbst, das verpackt weggestellt worden war. Da man es im Bethel nicht gebrauchen konnte, war man damit einverstanden, daß die Männer es mitnahmen. Bei dem Apparat handelte es sich lediglich um einen Empfänger, nicht um ein Sendegerät. Es gab niemals ein Sendegerät. Daher war es unmöglich, irgendwohin eine Nachricht zu senden.

Der Widerstand und Druck gegen Gottes Volk wuchsen weiterhin. J. F. Rutherford hielt am 24. Februar 1918 einen öffentlichen Vortrag in Los Angeles (Kalifornien) vor einer Zuhörerschaft von 3 500 Personen. Am Tag danach brachte die in Los Angeles erscheinende Tribune einen Bericht von einer vollen Seite über den Vortrag. Dies verärgerte die dortigen Geistlichen. Am Montagmorgen hielt ihre Predigervereinigung eine Zusammenkunft ab und sandte daraufhin ihren Präsidenten zur Geschäftsleitung der Zeitung, wo er eine Erklärung dafür forderte, daß so viel über den Vortrag veröffentlicht worden sei. Am folgenden Donnerstag ließ der Geheimdienst der Armee die Zweigstelle der Bibelforscher in Los Angeles besetzen, wobei auch viele der Publikationen der Gesellschaft beschlagnahmt wurden.

Am Montag, dem 4. März 1918, wurden Clayton J. Woodworth (der beim Zusammenstellen des Buches Das vollendete Geheimnis mitgewirkt hatte) und einige andere Brüder in Scranton (Pennsylvanien) verhaftet. Sie wurden fälschlich der Verschwörung angeklagt und mußten sich gegen Bürgschaft verpflichten, im Mai vor Gericht zu erscheinen. Während der Druck auf die Gesellschaft von außen stetig zunahm, wurden darüber hinaus mehr als zwanzig Bibelforscher in Armeelagern und Militärgefängnissen festgehalten, weil man ihnen die Freistellung vom Militär versagte. Einige von ihnen wurden vor Kriegsgerichte gestellt und zu vielen Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Am 14. März 1918 erklärte das Justizministerium der Vereinigten Staaten, daß die Verbreitung des Buches Das vollendete Geheimnis eine Verletzung des Spionagegesetzes darstelle.

Eine Gegenoffensive durch Gottes Volk war eine Notwendigkeit. Der von der Geistlichkeit hervorgerufene Widerstand gegen das christliche Werk der Bibelforscher mußte bloßgestellt werden. Daher veröffentlichte die Watch Tower Society am 15. März 1918 ein zweiseitiges Traktat in der Größe einer Zeitung, betitelt Königreichs-Nachrichten Nr. 1. Es trug die auffällige Überschrift „Religiöse Unduldsamkeit — Pastor Russells Anhänger verfolgt, weil sie den Menschen die Wahrheit sagen — Die Behandlung der Bibelforscher riecht nach dem ,finsteren Mittelalter’“. In diesem Traktat wurde die von der Geistlichkeit veranlaßte Verfolgung der christlichen Zeugen Jehovas in Deutschland, Kanada und den Vereinigten Staaten gründlich bloßgestellt. Millionen von Exemplaren wurden davon verbreitet.

Interessanterweise hieß es in diesem Traktat: „Wir anerkennen, daß die Regierung der Vereinigten Staaten als politische und wirtschaftliche Institution gemäß der Verfassung die Macht und Autorität besitzt, einen Krieg zu erklären und ihre Bürger zum Militärdienst einzuberufen. Wir haben nicht die Absicht, der Aushebung oder dem Krieg in irgendeiner Weise entgegenzuarbeiten. Die Tatsache, daß einige unserer Mitglieder den Schutz des Gesetzes in Anspruch zu nehmen suchten, ist als ein weiterer Anlaß zur Verfolgung benutzt worden.“

Am 15. April 1918 erschienen die Königreichs-Nachrichten Nr. 2, deren eindrucksvolle Schlagzeile „Das vollendete Geheimnis, weshalb unterdrückt“ lautete. Unter der Unterüberschrift „Geistliche haben dazu beigetragen“ zeigte dieses Traktat, daß die Regierungsstellen von der Geistlichkeit angetrieben wurden, gegen die Gesellschaft vorzugehen, Verhaftungen vorzunehmen, gegen Das vollendete Geheimnis Einwände zu erheben und auf die Bibelforscher Druck auszuüben, bestimmte Seiten (247—253) aus dem Buch zu entfernen. Dieses Traktat erklärte auch, warum die Geistlichkeit gegen Jehovas Diener kämpfte, und es zeigte deutlich, wie seine Diener gegenüber dem Krieg eingestellt waren und was sie bezüglich der wahren Kirche glaubten.

In Verbindung mit der Verbreitung dieser Ausgabe der Königreichs-Nachrichten wurde eine Petition in Umlauf gesetzt. Sie war an den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Wilson, gerichtet und lautete: „Wir, die unterzeichneten Amerikaner, vertreten die Auffassung, daß irgendein Eingreifen der Geistlichkeit in das unabhängige Bibelstudium ein unamerikanischer, unchristlicher Akt der Unduldsamkeit ist und daß jeder Versuch, die Kirche mit dem Staat zu verbinden, von Grund auf verkehrt ist. Im Interesse der Freiheit der Bürger und der Religion protestieren wir feierlich gegen die Unterdrückung des Buches Das vollendete Geheimnis und ersuchen die Regierung, alle Einschränkungen in bezug auf seine Verwendung zu beseitigen, damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen.“

Gerade sechs Wochen nach den ersten Königreichs-Nachrichten wurden am 1. Mai 1918 die Königreichs-Nachrichten Nr. 3 veröffentlicht. Sie trugen die Überschrift: „Zwei große Schlachten toben — Sturz der Autokratie gewiß“ und die Unterüberschrift: „Satans Strategie zum Scheitern verurteilt“. Diese Ausgabe handelte von dem Samen der Verheißung, der sich gegen den Samen Satans stellt (1. Mose 3:15). Sie verfolgte die Entwicklung des Antichristen von seiner Geburt bis zu den damals verübten Taten der katholischen und protestantischen Geistlichkeit. Unerschrocken zeigte dieses Traktat, wie der Teufel diese Personengruppen jetzt gebrauchte, den Überrest der gesalbten Nachfolger Jesu Christi auf der Erde zu vernichten.

Um die Ausgaben der Königreichs-Nachrichten, die damals veröffentlicht wurden, zu verbreiten, war Mut nötig. Manche Bibelforscher wurden eingesperrt. Es kam vor, daß größere Mengen der Königreichs-Nachrichten für kurze Zeit beschlagnahmt wurden. Obwohl Jehovas Diener sich durch die Opposition und die Verfolgung auf eine Feuerprobe gestellt sahen, erhielten sie doch ihre Treue gegenüber Gott aufrecht und fuhren in ihrem christlichen Werk fort.

GREUELTATEN, DIE BEGANGEN WURDEN

Mit wachsendem Widerstand der Geistlichen und der Laien gegen Jehovas Diener wurden auch Greueltaten an ihnen verübt. Eine spätere Veröffentlichung der Watch Tower Society gibt einen teilweisen Bericht der unglaublichen Verfolgungen, die die Bibelforscher erdulden mußten:

„Am 12. April 1918 wurde E. P. Taliaferro in Medford (Oregon) von einer Pöbelrotte überfallen und aus der Stadt gejagt, weil er das Evangelium gepredigt hatte, und George R. Maynard wurde ausgezogen, mit Farbe angemalt und aus der Stadt getrieben, weil er zugelassen hatte, daß in seinem Haus die Bibel studiert wurde. ...

Am 17. April 1918 wurden in Shawnee (Oklahoma) G. N. Fenn, George M. Brown, L. S. Rogers, W. F. Glass, E. T. Grier und J. T. Tull eingesperrt. Während der Verhandlung sagte der Staatsanwalt: ,In die Hölle mit eurer Bibel! Man sollte euch das Rückgrat brechen und euch in die Hölle schicken. Erhängen sollte man euch!’ Als G. F. Wilson von Oklahoma City als Rechtsverteidiger zu amtieren suchte, wurde auch er verhaftet. Jeder wurde zu 55 Dollar und den Gerichtskosten verurteilt. Vergehen: Verbreitung protestantischer Schriften. Der Richter ermunterte nach der Verhandlung zu einer Pöbelaktion, aber diese wurde vereitelt.

Am 22. April 1918 wurden in Kingsville (Texas) L. L. Davis und Daniel Toole von einer Pöbelrotte gejagt, die vom Bürgermeister und vom Kreisrichter angeführt wurde, und darauf gefaßt und ohne Berechtigung ins Gefängnis geworfen. Davis wurde von seiner Arbeitsstelle vertrieben. Im Mai 1918 wurde in Tecumseh (Oklahoma) J. J. May auf Befehl eines Richters ergriffen und für dreizehn Monate in einer Nervenheilanstalt eingesperrt, nachdem man ihn bedroht und beschimpft hatte. Seine Familie erhielt keinerlei Nachricht darüber, was man mit ihm getan hatte. ...

Am 17. März 1918 löste eine Pöbelrotte in Grand Junction (Colorado) eine Zusammenkunft zum Bibelstudium auf. Die Pöbelrotte bestand aus dem Bürgermeister, führenden Zeitungsleuten und anderen bekannten Geschäftsleuten. ...

Am 22. April 1918 wurde in Wynnewood (Oklahoma) Claud Watson zuerst eingesperrt und darauf vorsätzlich einer Pöbelrotte ausgeliefert, die aus Predigern, Geschäftsleuten und einigen weiteren Personen bestand. Man schlug ihn nieder, veranlaßte einen Neger, ihn auszupeitschen und, als er sich etwas erholt hatte, ihn von neuem zu schlagen. Dann überschüttete man ihn mit Teer und Federn, wobei man den Teer in seine Haare und in seine Kopfhaut einrieb. Am 29. April 1918 wurden in Walnut Ridge (Arkansas) W. B. Duncan, 61jährig, Edward French, Charles Franke, ein Herr Griffin und eine Frau D. Van Hoesen eingesperrt. In das Gefängnis brach eine Pöbelrotte ein, die sich der gemeinsten obszönen Sprache bediente und die Insassen mit Peitschen schlug, teerte, federte und dann aus der Stadt hinaustrieb. Duncan war gezwungen, über vierzig Kilometer weit bis zu seiner Wohnung zu Fuß zu gehen, und erholte sich kaum wieder. Griffin wurde buchstäblich blind und starb zufolge der Mißhandlungen einige Monate später.“

Sogar heute erinnert sich T. H. Siebenlist noch gut daran, was seinem Vater in Shattuck (Oklahoma) zugestoßen war. Er schreibt:

„Im September 1917 kam ich in die Schule. Alles ging gut, bis um den März herum von allen Schulkindern verlangt wurde, eine Rote-Kreuz-Anstecknadel zu kaufen. Mittags nahm ich den Zettel mit nach Hause. Vater war zur Arbeit, und Mutter konnte zu jener Zeit nur Deutsch lesen. Bruder Howlett jedoch, ein Pilgerbruder, besuchte gerade die ,Klasse‘ und nahm sich der Sache an. Es wurde keine Anstecknadel gekauft!

Nicht viel später holten Beamte meinen Vater an seinem Arbeitsplatz ab und versuchten, ihn zu zwingen, auf dem Buch Das vollendete Geheimnis stehend, die Fahne zu grüßen, und das mitten auf der Hauptstraße von Shattuck. Er wurde ins Gefängnis gebracht ...

Kurz darauf wurde Vater wieder abgeholt und für weitere drei Tage festgehalten. Man gab ihm sehr wenig zu essen. Seine Freilassung verlief diesmal jedoch anders. Etwa um Mitternacht täuschten drei Männer einen Gefängnis,einbruch‘ vor. Sie zogen einen Sack über den Kopf meines Vaters und ließen ihn barfuß zum westlichen Ende der Stadt marschieren. Der Boden war dort rauh und voller klettenartiger Pflanzen. Hier entblößten sie ihm den Oberkörper und schlugen ihn mit einer Reitpeitsche, die in einen Draht auslief. Danach übergossen sie ihn mit heißem Teer und federten ihn, worauf sie ihn als tot zurückließen. Er brachte es fertig, aufzustehen und sich teils laufend, teils kriechend um die Stadt herum nach Südosten zu schleppen. Er hatte vor, sich nach Norden zu wenden und nach Hause zu gehen. Einer seiner Freunde fand ihn aber und brachte ihn nach Hause. Ich habe ihn an jenem Abend nicht zu Gesicht bekommen, doch für meine Mutter war sein Anblick ein schrecklicher Schock, besonders da sie gerade ein Neugeborenes im Hause hatte; und Oma Siebenlist wurde ohnmächtig, als sie ihn sah. Mein Bruder John war nur wenige Tage vor diesen Ereignissen geboren worden. Meine Mutter jedoch hielt unter all der Belastung sehr gut durch, da sie sich stets die schützende Macht Jehovas vor Augen hielt. ...

Oma und Tante Katie, die Halbschwester meines Vaters, brachten durch ihre Pflege wieder Leben in ihn. Der Teer und die Federn hatten sich in sein Fleisch eingegraben. Sie benutzten daher Gänsefett, um die Wunden zum Heilen zu bringen, und nach und nach löste sich der Teer ab. ... Vater hatte ihre Gesichter nicht sehen können, doch er hatte ihre Stimmen erkannt und wußte, wer seine Angreifer gewesen waren. Er sagte es ihnen nie. Es war sogar schwierig, ihn dazu zu bewegen, überhaupt darüber zu reden. Er hatte diese Narben bis zu seinem Tode.“

„VORSICHTIG WIE SCHLANGEN“

Durch das Verbot des Buches Das vollendete Geheimnis und einiger anderer christlicher Veröffentlichungen sahen sich Jehovas Diener in einer schwierigen Situation. Doch Gott hatte ihnen ein Werk aufgetragen, und sie führten es weiterhin aus, wobei sie sich als „vorsichtig wie Schlangen und doch unschuldig wie Tauben“ erwiesen (Matth. 10:16) Darum wurden Bibelstudienhilfsmittel manchmal an verschiedenen Plätzen versteckt: vielleicht auf einem Dachboden oder in der Kohlenkiste, unter den Bodenbrettern oder in Möbelstücken.

Bruder C. W.  Miller erzählt uns folgendes: „Da unser Haus zu jener Zeit das Zentrum der Bibelforscher am Ort war, kamen die Brüder um Mitternacht mit einem Lastwagen angefahren, um die Literatur zu bringen, und wir versteckten die Bücherkartons in einem Hühnergehege, getarnt mit Rhodeländer Hühnern und Laub.“

Bruder D. D. Reusch erinnert sich an ein Vorkommnis aus jenen Tagen und schreibt: „Bei der Familie Reed waren die Bücher hinter dem Haus gestapelt, wo sie außer Sicht waren. Als die Polizei kam, stockte den Brüdern der Atem, als sie sich dem Versteck näherten. Doch gerade dann fiel eine große Schneewehe vom Dach und bedeckte diesen Bereich vollständig.“

‘DURCH VERORDNUNG UNHEIL GESCHMIEDET’

Vor Jahrhunderten stellte der Psalmist die Frage: „Wird der Thron, der Widerwärtigkeiten verursacht, mit dir verbündet sein, während er durch Verordnung Unheil schmiedet?“ (Ps. 94:20). Jehovas Diener gehorchen stets allen Gesetzen der Nationen, die mit den Gesetzen Gottes nicht im Widerspruch stehen. Wenn allerdings ein Konflikt zwischen den Forderungen sterblicher Menschen und den Gesetzen Gottes besteht, ist nichts anderes zu erwarten, als daß Christen den Standpunkt der Apostel einnehmen und „Gott, dem Herrscher, mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg. 5:29). Um ihre Tätigkeit zu unterbinden, werden bisweilen gute Gesetze mißbraucht. In anderen Fällen können die Feinde Verordnungen durchbringen, die sich zum Schaden für Gottes Volk auswirken.

Am 15. Juni 1917 verabschiedete der Kongreß der Vereinigten Staaten das Wehrpflichtgesetz. Darin wurde die Aushebung von Kriegspersonal geregelt, doch auch die Freistellung von Männern, die aus Glaubensgründen nicht am Krieg teilnehmen konnten. Viele junge Männer aus dem ganzen Land schrieben an die Watch Tower Society und fragten Richter Rutherford, was sie tun sollten. Später sagte er darüber: „Viele junge Männer im Lande fragten mich, was sie nun tun sollten. Mein Rat, den ich denen gab, die mich darum baten, lief in jedem Fall auf folgendes hinaus: ,Wenn du dich aus Gewissensgründen nicht am Krieg beteiligen kannst, dann gibt dir der Paragraph 3 des Wehrpflichtgesetzes die Möglichkeit, einen Antrag auf Freistellung zu stellen. Du solltest dich erfassen lassen und deinen Antrag auf Freistellung mit Angabe der Gründe einreichen, und dann wird der Musterungsausschuß den Antrag weiterleiten.‘ Ich habe ihnen stets nur geraten, sich das Gesetz des Kongresses zunutze zu machen. Ich habe immer darauf gedrungen, daß jeder Bürger dem Gesetz des Landes gehorchen sollte, solange dieses Gesetz nicht im Widerspruch zu Gottes Gesetz stand.“

Damals, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, wurde eine ganz klare Verschwörung gegen Jehovas Diener deutlich sichtbar. In Philadelphia (Pennsylvanien) hielten viele Geistliche 1917 eine Konferenz ab, um diese Verschwörung voranzutreiben. Sie ernannten dort ein Komitee, das in der Landeshauptstadt Washington (D. C.) vorstellig werden und auf eine Änderung des Wehrpflichtgesetzes und des Spionagegesetzes dringen sollte. Das Komitee sprach beim Justizministerium vor. Auf Ersuchen der Geistlichen wurde John Lord O’Brian, ein Beamter des Ministeriums, ausgewählt, einen Zusatz zum Spionagegesetz auszuarbeiten und ihn im Senat der Vereinigten Staaten einzubringen. Dieser Zusatz sah vor, daß alle Vergehen gegen das Spionagegesetz vor Militärgerichten behandelt werden sollten und daß diejenigen, die schuldig gesprochen wurden, mit dem Tode bestraft werden sollten. Dieser Gesetzesantrag wurde jedoch nicht verabschiedet.

Während der Kongreß den Zusatz zum Spionagegesetz behandelte, wurde eine Bestimmung eingebracht, die als „France Amendment“ bekannt wurde. Dieser Gesetzeszusatz sah vor, daß jeder, der „wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind“, Äußerungen macht, nicht unter die Bestimmungen des Gesetzes falle.

Am 4. Mai 1918 jedoch ließ Senator Overman eine Denkschrift des Justizministers in die Kongreßprotokolle (Congressional Record, 4. Mai 1918, Seite 6052, 6053) aufnehmen. Darin wurde auszugsweise festgestellt:

„Die Ansicht des militärischen Geheimdienstes steht völlig im Gegensatz zu dem Zusatz zum Spionagegesetz, der besagt, daß Paragraph 3 Absatz I nicht auf diejenigen angewendet werden soll, die Äußerungen ,wahrheitsgemäß mit aufrichtigen Beweggründen und mit Absichten, die zu rechtfertigen sind‘, machen.

Die Erfahrung lehrt, daß ein solcher Zusatz den Wert des Gesetzes zu einem großen Teil zunichte machen und jeden Prozeß zu einer akademischen Debatte über unlösbare Fragen darüber, was nun eigentlich wahrheitsgemäß sei, machen würde. Die Beweggründe eines Menschen sind zu kompliziert, als daß man sie erörtern könnte, und der Ausdruck ,Absichten, die zu rechtfertigen sind‘ erweist sich im praktischen Gebrauch als zu dehnbar. ...

Eines der gefährlichsten Beispiele dieser Art von Propaganda ist das Buch Das vollendete Geheimnis, welches in einer extrem religiösen Sprache verfaßt wurde und in riesigen Mengen verbreitet wird. Das einzige, was dieses Buch bewirkt, ist, daß es die Soldaten dazu führt, nicht mehr an unsere Sache zu glauben, und daß es in der Heimat eine feindselige Einstellung gegenüber der Einziehung zum Wehrdienst weckt.

Die Herausgeber der Königreichs-Nachrichten in Brooklyn drucken eine Petition, die fordert, daß alle Einschränkungen, die dem Buch Das vollendete Geheimnis und ähnlichen Werken auferlegt wurden, beseitigt werden sollten, ,damit es den Menschen gestattet sei, dieses Hilfsmittel zum Bibelstudium ohne Einmischung oder Belästigung zu kaufen, zu verkaufen, zu besitzen und zu lesen‘. Der Absatz in diesem Gesetzeszusatz würde unsere Kasernen diesem zersetzenden Einfluß wieder zugänglich machen.

Die International Bible Students’ Association gibt vor, rein religiöse Motive zu haben, doch wir haben herausgefunden, daß ihrem Hauptbüro schon seit langem nachgesagt wird, daß dort deutsche Agenten ein- und ausgehen. ...

Dieser Absatz des Änderungsantrages würde die Leistungsfähigkeit Amerikas bedeutend schwächen und niemand als nur dem Feind nützen. Im Krieg zählen Ergebnisse und keine Beweggründe, weshalb das Gesetz und diejenigen, die es ausführen, darum besorgt sein sollten, wünschenswerte Ergebnisse zu erzielen und gefährliche zu vermeiden. Die Beweggründe sollten sie der Barmherzigkeit der Richter oder der Beurteilung durch die Geschichtsforscher überlassen.“

Das Ergebnis dieser Bemühungen des Justizministeriums war, daß das geänderte Spionagegesetz am 16. Mai 1918 ohne den fraglichen Zusatz verabschiedet wurde.

„WIR WISSEN, WIE WIR EUCH FASSEN KÖNNEN UND WIR WERDEN EUCH FASSEN!“

Um diese Zeit herum waren einige junge Männer, die mit den Bibelforschern verbunden waren, zum Militärdienst einberufen worden und als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen nach Camp Upton auf Long Island (New York) gebracht worden. Das Lager stand unter der Aufsicht von General James Franklin Bell. Er besuchte J. F. Rutherford in seinem Büro und versuchte, ihn zu veranlassen, daß er diesen Männern Anweisung gebe, jeglichen Dienst zu leisten, den Bell ihnen zuteilen würde, sei es in Übersee oder sonstwo. Rutherford weigerte sich, dies zu tun. Der General war beharrlich, und schließlich schrieb Rutherford einen Brief, in dem es im wesentlichen hieß: „Jeder von Euch muß selbst entscheiden, ob er sich am aktiven Militärdienst beteiligt oder nicht. Tut das, was Ihr als Eure Pflicht anseht und was in den Augen des allmächtigen Gottes recht ist.“ Bell war mit diesem Brief ganz und gar nicht zufriedengestellt.

Wenige Tage darauf besuchten J. F. Rutherford und W. E. Van Amburgh General Bell im Camp Upton. Bell erzählte Rutherford in Gegenwart seines Adjutanten und Van Amburghs von der Konferenz der Geistlichen in Philadelphia. Er erwähnte, daß sie John Lord O’Brian ausgewählt hatten, um die Angelegenheit dem Senat vorzulegen, worauf dieser einen Gesetzesantrag eingebracht hatte, nach dem alle Fälle in Verbindung mit dem Spionagegesetz vor Kriegsgerichten verhandelt werden und die Todesstrafe nach sich ziehen sollten. General Bell „zeigte sich ziemlich wütend“, sagte Rutherford, der weiter berichtete: „Vor ihm auf seinem Tisch lag ein Stapel Papiere, auf die er mit seinem Zeigefinger pochte, und in großer Erregung richtete er die Worte an mich: ,Der Gesetzentwurf ist nicht verabschiedet worden, weil Wilson es verhindert hat; aber wir wissen, wie wir euch fassen können, und wir werden euch fassen!‘ Darauf antwortete ich: ,Herr General, Sie wissen, wo Sie mich finden.‘ “

TODESSTOSS FÜR DIE „ZWEI ZEUGEN“

Von Anfang Oktober 1914 an verkündeten die gesalbten Nachfolger Christi, daß die Heidenzeiten geendet hatten und daß die Nationen sich ihrer Vernichtung in Harmagedon näherten (Luk. 21:24; Offb. 16:14-16). Die sinnbildlichen „zwei Zeugen“ verkündeten diese Trauerbotschaft den Nationen 1 260 Tage lang, während dreieinhalb Jahren (4./5. Oktober 1914 bis 26./27. März 1918). Danach führte das einem wilden Tier gleiche politische System des Teufels Krieg gegen Gottes „zwei Zeugen“ und ‘tötete’ sie schließlich, was ihr Werk des Prophezeiens — „mit Sacktuch bekleidet“ — betraf, sehr zur Erleichterung ihrer Feinde unter den Geistlichen, den Politikern, den Militärs und den Richtern (Offb. 11:3-7; 13:1). So lautete die Prophezeiung, und sie erfüllte sich. Doch wie?

Am 7. Mai 1918 gab das US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York einen Haftbefehl zur Verhaftung einer Anzahl Diener heraus, die in verantwortlichen Stellungen der Watch Tower Society dienten. Dazu gehörten der Präsident J. F. Rutherford, der Sekretär-Kassierer W. E. Van Amburgh, Clayton J. Woodworth und George H. Fisher (die Das vollendete Geheimnis zusammengestellt hatten), F. H. Robison (Mitherausgeber des Wachtturms), A. H. Macmillan, R. J. Martin und Giovanni DeCecca.

Gleich am Tag darauf, am 8. Mai 1918, wurden diejenigen von dieser Gruppe, die im Bethel Brooklyn waren, verhaftet. Innerhalb kurzer Zeit befanden sich alle in Haft. Kurz darauf wurden sie dem Bundesgericht vorgeführt. Richter Garvin hatte den Vorsitz. Sie alle sahen sich einer Anklage gegenüber, die kurz vorher von der Anklagejury fertiggestellt worden war und in der ihnen vorgeworfen wurde:

„(1, 3) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Anstiftung zur Insubordination, Untreue und Verweigerung der Dienstpflicht in den Militär- und Flottenstreitkräften der Vereinigten Staaten von Amerika, und zwar durch persönliche Aufforderungen, Briefe, öffentliche Reden und die öffentliche Verbreitung eines gewissen Buches, betitelt ,Band 7 — Schriftstudien — Das vollendete Geheimnis‘, überall in den Vereinigten Staaten von Amerika und durch die öffentliche Verbreitung gewisser Artikel, die in Druckschriften, betitelt Schriftforscher, Der Wacht-Turm, Königreichs-Nachrichten, und in anderen, nicht genannten Flugschriften erschienen sind, überall in den Vereinigten Staaten.

(2, 4) Das Vergehen der ungesetzlichen, böswilligen und willentlichen Behinderung der Aushebung und Anwerbung von Soldaten durch die Vereinigten Staaten, zu einer Zeit, als die Vereinigten Staaten sich im Kriegszustand befanden.“

Die Anklage stützte sich vor allem auf einen Absatz in dem Buch Das vollendete Geheimnis. Dieser lautete: „Nirgendwo im Neuen Testament wird der Patriotismus (ein engstirniger Haß gegen andere Völker) unterstützt. Stets und überall wird Mord in jeder Form verboten; und dennoch verlangen die Regierungen der Erde unter dem Deckmantel des Patriotismus von friedliebenden Menschen, daß sie sich selbst und ihre Lieben opfern und ihre Mitmenschen hinschlachten, wobei sie dies noch als eine Pflicht preisen, die das Gesetz des Himmels fordert.“

Die Brüder Rutherford, Van Amburgh, Macmillan und Martin sahen sich einer zweiten Anklage gegenüber. Gestützt auf die Behauptung, daß die Beamten der Gesellschaft 500 Dollar an den Leiter des Schweizer Zweiges der Gesellschaft in Zürich gesandt hatten, warf man ihnen vor, sie hätten mit dem Feind Handel getrieben. Die Gerichtsverfahren aller Brüder, die dem Richter vorgeführt worden waren, wurden unter der Bedingung aufgeschoben, daß sie für jede Anklage eine Kaution von 2 500 Dollar leisteten. Sie wurden gegen Kaution freigelassen und erschienen am 15. Mai 1918 vor Gericht. Die Verhandlung wurde auf den 3. Juni 1918 vor dem US-Bezirksgericht für den östlichen Bezirk der Stadt New York festgesetzt. Die Brüder bekannten sich in bezug auf beide Anklageschriften als „nicht schuldig“ und betrachteten sich als völlig unschuldig in bezug auf alle Anklagepunkte.

Weil Richter Garvin bei den ersten Verhören eine sehr gefühlsbetonte Haltung in dem Fall gezeigt hatte, gaben die Verteidiger eidesstattliche Erklärungen ab, in denen sie zeigten, warum sie der Ansicht waren, daß der Richter gegen sie voreingenommen war. Nach einer Weile ließ man den US-Bezirksrichter Harland B. Howe kommen, der bei dem Prozeß den Vorsitz einnehmen sollte. Wie A. H. Macmillan sagte, wußte die Regierung, daß er „ein besonderes Vorurteil zugunsten der Strafverfolgungsbehörden und gegen die Angeklagten hatte, denen vorgeworfen wurde, das Gesetz verletzt zu haben“, wovon sie jedoch nichts wußten. Macmillan sagte auch: „Aber man ließ uns nicht lange im ungewissen. Seine Feindseligkeit zeigte sich von seiner ersten Besprechung an, die er mit den Anwälten vor dem Prozeß in seinem Richterzimmer hatte. Er ließ wissen: ,Die Angeklagten werden von mir das bekommen, was ihnen zusteht.‘ Jetzt war es jedoch zu spät für unsere Anwälte, einen Antrag wegen Befangenheit des Richters zu stellen.“

Macmillan sagte, daß es in der Anklageschrift ursprünglich hieß, die Angeklagten hätten zwischen dem 6. April 1917, als die Vereinigten Staaten den Krieg erklärt hatten, und dem 6. Mai 1918 mit ihrer Verschwörung begonnen. Auf Antrag gab die Regierung an, daß das Datum des angeblichen Vergehens zwischen dem 15. Juni 1917 und dem 6. Mai 1918 gelegen hätte.

VORGÄNGE IM GERICHTSSAAL

Da sich die Vereinigten Staaten im Krieg befanden, zog ein Gerichtsverfahren gegen die Bibelforscher wegen der Anklage der Aufwiegelei große Aufmerksamkeit auf sich. Wie stand die Öffentlichkeit dazu? Sie unterstützte alles, was den Krieg vorantreiben würde. Draußen vor dem Gerichtssaal spielten Kapellen, und auf dem nahe gelegenen Rathausplatz exerzierten Soldaten. Im Gerichtssaal schleppte sich der Prozeß fünfzehn Tage lang hin, wobei ein wahrer Berg von Zeugenaussagen aufgehäuft wurde. Wir wollen einmal hineingehen und den Prozeßablauf verfolgen.

A. H. Macmillan, einer der Angeklagten, vermittelt uns einen Eindruck von der Atmosphäre, denn später schrieb er: „Während des Verfahrens sagte die Regierung, wenn jemand an der Straßenecke stehen und das Vaterunser mit der Absicht aufsagen würde, andere davon abzuhalten, zum Militär zu gehen, dann könne er dafür ins Zuchthaus geschickt werden. Daraus erkennt man, wie einfach man es sich machte, Beweggründe auszulegen. Sie meinten, sie wüßten, was eine andere Person denke, und auf dieser Grundlage ging man gegen uns vor, obwohl wir bezeugten, daß wir uns nie verschworen hatten, irgend etwas zu tun, was gegen den Kriegsdienst gerichtet war, und daß wir niemanden jemals ermutigt hatten, sich dagegenzustellen. Doch es half alles nichts. Ein paar religiöse Führer der Christenheit und ihre politischen Verbündeten waren entschlossen, uns zu fassen. Die Staatsanwaltschaft war mit Richter Howes Zustimmung auf unsere Verurteilung aus und blieb bei der Meinung, daß unsere Beweggründe unwichtig seien; man solle aus unseren Handlungen auf unsere Absichten schließen. Ich wurde allein deshalb schuldig gesprochen, weil ich einen Scheck gegengezeichnet hatte, dessen Zweck man nicht erkennen konnte, und weil ich eine Erklärung unterschrieben hatte, die Bruder Rutherford bei einer Vorstandssitzung vorgelesen hatte. Doch sie konnten noch nicht einmal beweisen, daß es meine Unterschrift war. Diese Ungerechtigkeit machte es uns später in der Berufung leichter.“

Einmal wurde ein ehemaliger Beamter der Gesellschaft als Zeuge vereidigt. Nachdem er sich ein Beweisstück angesehen hatte, das zwei Unterschriften trug, sagte er, daß er eine davon als die von W. E. Van Amburgh wiedererkenne. Die Protokollniederschrift sagt an dieser Stelle:

„Frage: Ich lege Ihnen Beweisstück Nr. 31 zur Identifikation vor und bitte Sie, sich die zwei Unterschriften oder angeblichen Unterschriften von MacMillan und Va[n] Amburgh anzusehen. Ich frage Sie als erstes bezüglich der Unterschrift Van Amburghs, ob dies Ihrer Meinung nach seine Unterschrift ist. Antwort: Ich glaube, ja. Ich erkenne sie wieder.

Frage: Und Mr. MacMillans? Antwort: Mr. MacMillans ist nicht so leicht zu erkennen, aber ich glaube, es ist seine Unterschrift.“

Bruder Macmillan schrieb später, was die Angeklagten zu ihrer Verteidigung vorbrachten:

„Nachdem die Regierung ihre Darlegung beendet hatte, brachten wir unsere Verteidigung vor. Im wesentlichen wiesen wir darauf hin, daß die Gesellschaft durch und durch eine religiöse Organisation ist; daß ihre Mitglieder die Heilige Schrift als Grundlage ihres Glaubens anerkennen, so, wie sie von Charles T. Russell erklärt wurde; daß C. T. Russell während seines Lebens sechs Bände der Schriftstudien geschrieben und veröffentlicht hatte und schon im Jahre 1896 einen siebenten Band versprochen hatte, der Hesekiel und die Offenbarung behandeln würde; daß er kurz vor seinem Tode gesagt hatte, daß jemand anders den siebenten Band schreiben würde; daß kurz nach seinem Tod C. J. Woodworth und George H. Fisher vom Exekutivkomitee der Gesellschaft bevollmächtigt wurden, das Manuskript zu schreiben und zur Begutachtung einzureichen, ohne daß irgendein Versprechen in bezug auf die Veröffentlichung gemacht worden wäre; daß das Manuskript für die Offenbarung fertiggestellt worden war, bevor die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, und daß alle Manuskripte des gesamten Buches (außer einem Kapitel über den Tempel) bereits in der Druckerei waren, bevor das Spionagegesetz erlassen wurde; daher war es gar nicht möglich, das Gesetz durch eine Verschwörung zu verletzen, wie dies behauptet wurde.

Wir sagten aus, daß wir uns zu keiner Zeit zusammengesetzt, geeinigt oder verschworen hätten, irgend etwas zu tun, was den Kriegsdienst beeinflußt oder die Kriegsbemühungen der Regierung behindert hätte, auch hätten wir niemals daran gedacht, etwas Derartiges zu tun; wir hätten nie die Absicht gehabt, uns irgendwie in den Krieg einzumischen; unser Werk sei gänzlich religiöser und überhaupt nicht politischer Natur; wir würden keine Mitglieder werben und hätten niemals jemandem dazu geraten oder irgend jemanden ermuntert, sich der Einberufung zu widersetzen; die Briefe, die geschrieben worden seien, seien an Personen gerichtet gewesen, von denen wir gewußt hätten, daß sie Gott hingegebene Christen seien, die einen rechtmäßigen Anspruch auf Rat hätten; wir sagten, daß wir nicht dagegen seien, daß das Land in den Krieg ziehe, doch als Gott hingegebene Christen könnten wir uns nicht an fleischlichen Kämpfen beteiligen.“

Aber nicht alles, was während des Prozesses gesagt und getan wurde, war offen und ehrlich. Macmillan berichtete später: „Einige Brüder, die dem Verfahren beigewohnt hatten, erzählten mir später, daß einer der Staatsanwälte auf den Gang hinausgegangen war, wo er sich flüsternd mit einigen von der Oppositionsgruppe innerhalb der Gesellschaft unterhalten hatte. Sie hatten gesagt: ,Laßt den Kerl [Macmillan] nicht laufen; er ist der schlimmste von allen. Wenn ihr ihn nicht mit den andern kriegt, dann wird er alles fortsetzen.‘ “ Man erinnere sich, daß genau zu dieser Zeit ehrgeizige Männer versuchten, die Leitung der Watch Tower Society an sich zu reißen. Es ist daher nicht verwunderlich, daß Rutherford später die Brüder, denen die Obhut des Bethels anvertraut worden war, warnte: „Wir sind benachrichtigt worden, daß sieben Personen, die im vergangenen Jahr der Gesellschaft und ihrem Werke Widerstand entgegengebracht hatten, bei der Verhandlung zugegen waren und unseren Anklägern Hilfe leisteten. Wir warnen Euch, liebe Brüder, vor den schlauen Bemühungen einiger von ihnen, die Euch jetzt umschmeicheln, in der Absicht, sich der Gesellschaft zu bemächtigen.“

Nach dem langen Prozeß kam schließlich der erwartete Tag der Entscheidung. Am 20. Juni 1918, gegen 17 Uhr wurde der Fall den Geschworenen übergeben. Später erinnerte sich J. F. Rutherford: „Die Geschworenen zögerten lange, bevor sie eine Entscheidung fällten. Doch schließlich ließ ihnen Richter Howe sagen, daß ihre Entscheidung ,Schuldig‘ lauten müsse, wie uns dies einer der Geschworenen später selbst sagte.“ Um 21.40 Uhr, nach über viereinhalbstündiger Beratung, kamen die Geschworenen mit ihrer Entscheidung zurück: „Schuldig.“

Das Urteil wurde am 21. Juni gefällt. Der Gerichtssaal war voll. Auf die Frage, ob sie noch irgend etwas zu sagen hätten, reagierten die Angeklagten nicht. Darauf folgte das Urteil Richter Howes. Zornig sagte er: „Die religiöse Propaganda dieser Männer ist gefährlicher als eine Division deutscher Soldaten. Sie haben nicht nur die Tätigkeit des Staatsanwalts und des Geheimdienstes der Armee in Frage gezogen, sondern auch die Geistlichkeit aller Konfessionen öffentlich bloßgestellt. Dafür sollten sie schwer bestraft werden.“

Das wurden sie auch. Sieben der Angeklagten wurden zu achtzig Jahren Zuchthaus verurteilt (je zwanzig Jahre für vier verschiedene Anklagepunkte, die gleichzeitig liefen). Die Verurteilung von Giovanni DeCecca wurde verschoben, doch er erhielt schließlich vierzig Jahre, je zehn Jahre für jeden derselben vier Anklagepunkte. Die Angeklagten sollten ihre Strafe im Bundesgefängnis von Atlanta (Georgia) verbüßen.

Der Prozeß hatte fünfzehn Tage gedauert. Man hatte umfangreiches Zeugnismaterial gesammelt, und das Verfahren war oft ungerecht gewesen. Es wurde später sogar nachgewiesen, daß die Verhandlung mehr als 125 Fehler enthalten hatte. Nur einige wenige brauchten schließlich vor dem Berufungsrichter angeführt zu werden, um zu bewirken, daß das gesamte Verfahren als parteiisch verworfen wurde.

„Ich habe mit den Brüdern die ganze Zeit gelitten, als man sie dieser ungerechten Prüfung unterzog“, erklärt James Gwin Zea, der als Zuschauer dabeigewesen war. Er fährt fort: „Ich sehe immer noch, wie der Richter Bruder Rutherford die Möglichkeit entzog, sich zu verteidigen. ,Vor diesem Gericht gilt die Bibel nicht‘, lautete sein Kommentar. Ich blieb damals über Nacht bei Bruder M. A. Howlett im Bethel, und etwa um 10 Uhr hieß es, daß sie schuldig gesprochen worden seien. Am nächsten Tag wurden sie verurteilt.“

Bruder Rutherford und die Brüder, die bei ihm waren, blieben trotz ihres ungerechten Schuldspruches und der schweren Strafe, die sie erhalten hatten, furchtlos und unerschrocken. Es ist interessant, zu lesen, was die New York Tribune vom 22. Juni 1918 berichtete: „Joseph F. Rutherford und sechs andere ,Russelliten‘, der Übertretung des Spionagegesetzes für schuldig erklärt, wurden gestern durch Richter Howe zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, die sie in der Strafanstalt Atlanta verbüßen werden. Mr. Rutherford sagte auf dem Weg vom Gerichtshof zum Gefängnis: ,Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens. Eine irdische Strafe für seine Glaubensüberzeugung zu erhalten ist eines der größten Vorrechte, die ein Mensch haben kann.‘ Eine der seltsamsten Kundgebungen, die man je erlebt hat, fand im Gebäude des Brooklyner Bundesgerichts statt, bald nachdem die Gefangenen in den Saal der Anklagejury geführt worden waren. Die Familienangehörigen und die vertrauten Freunde der als schuldig Befundenen stimmten nämlich ein Lied an, so daß das alte Gebäude von den Klängen des Liedes ,Gesegnet Band, das bind’t’ widerhallte. ,Das alles ist Gottes Wille‘, so sagten sie sich gegenseitig mit fast strahlendem Gesicht. ,Der Tag wird kommen, an dem die Welt erkennen wird, was all dies bedeutet. Inzwischen wollen wir dankbar sein für die Gnade Gottes, die uns durch unsere Prüfungen hindurch aufrechterhalten hat, und wir wollen dem großen Tag entgegensehen, der kommen wird.‘ “

Während der Fall in der Berufung schwebte, versuchten die Brüder zweimal, gegen Kaution freizukommen, wurden aber abgewiesen, zuerst von Richter Howe und später von Richter Martin T. Manton. In der Zwischenzeit hielt man sie zuerst im Gefängnis in der Raymond Street in Brooklyn fest, nach A. H. Macmillan „das schmutzigste Loch, in das ich je kam“. Clayton J. Woodworth nannte es scherzhaft das „Hotel de Raymondie“. Nach einer Woche unangenehmen Aufenthalts kamen sie eine weitere Woche in das Stadtgefängnis von Long Island. Am 4. Juli, dem Unabhängigkeitstag der Vereinigten Staaten, brachte man die ungerechterweise verurteilten Männer mit der Bahn zur Strafanstalt in Atlanta (Georgia).