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Warum verlassen Menschen die traditionellen Religionen?

Warum verlassen Menschen die traditionellen Religionen?

Warum verlassen Menschen die traditionellen Religionen?

ETWA 1,7 MILLIARDEN Menschen gehören Glaubensgemeinschaften an, deren Lehrgebäude sich nach eigenen Angaben auf die Lehren Jesu stützt. Weltweit ist das Christentum die Religion mit den meisten Gläubigen; es liegt noch vor anderen Weltreligionen wie dem Buddhismus, dem Hinduismus und dem Islam. Wie Berichte jedoch zeigen, schwindet in vielen christlichen Ländern sein Einfluss auf die breite Masse zusehends.

Angehörige aller sozialen Schichten treten aus den Kirchen aus. Wie Ronald F. Inglehart, Wissenschaftler an der Universität Michigan und Leiter des World Values Survey, meint, verliert die Religion in den Industrieländern an Bedeutung. In der Zeitschrift Bible Review wird er wie folgt zitiert: „Der wöchentliche Kirchenbesuch ist bereits stark zurückgegangen, und jetzt entsenden lateinamerikanische Länder schon Missionare, um die Seelen der Menschen im Gebiet ihrer früheren Kolonialmächte zu retten.“ Der „Verfall der Religion“ ist laut Inglehart in einigen nordeuropäischen Ländern besonders krass. In Norwegen und Dänemark gehen nur 5 Prozent der Bevölkerung regelmäßig zur Kirche. In Schweden liegt die Zahl gerade einmal bei 4 Prozent, in Russland bei 2 Prozent.

Unter Deutschlands katholischen Kirchenmitgliedern ist laut Statistik der Prozentsatz an regelmäßigen Kirchgängern zwischen 1984 und 1993 von 25,3 auf 19 Prozent gefallen. Von den Protestanten besuchten 1992 lediglich 4 Prozent jeden Sonntag den Gottesdienst. Und im Jahr 1999 berichtete die Zeitung Christianity Today: „Nur jeder zehnte Deutsche geht allwöchentlich zur Kirche.“

Über den Rückgang der Gläubigen in Großbritannien schreibt die Zeitung The Guardian: „Um die Christenheit stand es noch nie so schlecht.“ Wie es in dem Artikel weiter heißt, „waren für Priester und Presbyter die 50 Jahre zwischen 1950 und 2000 die schlimmsten“. Mit Bezug auf einen Sonderbericht über die Religion im Vereinigten Königreich wird in der Zeitung berichtet, dass nicht nur bei jungen Leuten, sondern auch bei den Älteren das Vertrauen zur institutionellen Religion schwindet. „Mit zunehmendem Alter“, so der Guardian, „verlieren ältere Menschen immer mehr den Glauben an Gott. Neuere Forschungen bestätigen diesen Trend und werden Großbritanniens krisengeschüttelte Kirchen hart treffen. Diese sahen in der älteren Generation bislang das stabile Rückgrat ihrer schrumpfenden Gemeinden.“

Ähnliche Entwicklungen sind in außereuropäischen Ländern zu beobachten. Wie zum Beispiel in der kanadischen Zeitschrift Alberta Report festgestellt wird, erlebt Kanada einen „Verfall des institutionellen Glaubens und Gottesdienstes“. „Dreimal so viele Kanadier ziehen ihre eigenen, subjektiven Vorstellungen von Gott der Anerkennung eines klar definierten Glaubensbekenntnisses vor“, so die Zeitschrift.

Vielen Kirchgängern fehlt in den Gottesdiensten ganz einfach das Gefühl der geistigen Bereicherung und Stärkung. Die kanadische Zeitschrift Maclean’s berichtet über Interviews mit Juden und Katholiken in einem Aschram im Himalaja, einer hinduistischen Meditationsstätte. Die Befragten sagten: „Die steifen Rituale berührten uns innerlich nicht mehr.“ Selbst nach vielen Jahren treuen Kirchgangs steht manch einer vor der Frage, was er in der Kirche eigentlich gelernt habe und ob er Gott dadurch näher gekommen sei. Demnach überrascht es nicht, dass, wie der Autor Gregg Easterbrook schreibt, „die seelische Verelendung im Westen als größtes Manko unserer Zeit die materielle Armut von Platz eins verdrängt hat“.

Zugegeben, viele Länder weisen stabilere Kirchgängerzahlen auf, doch lässt der Gang zur Kirche nicht zwangsläufig auf treues Festhalten an Kirchenlehren schließen. So ist in der australischen Zeitung The Age zu lesen, dass im Westen „der Anteil an praktizierenden Christen rapide abnimmt. In großen Teilen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ist das Christentum ein Deckmantel, unter dem sich exotische Glaubensansichten aus Stammesreligionen oder Kulten verbergen, die mit den herkömmlichen christlichen Lehren nichts gemein haben, ihnen sogar oft widersprechen und vor Jahren von amtlicher Seite verworfen wurden.“

Wie kommt es, dass sich Jung und Alt in so großer Zahl von den Kirchen abwenden? Ein entscheidender Grund ist offensichtlich Enttäuschung.

Die traurige Bilanz der Religion

In der Zeitung The Guardian wird folgende Beobachtung gemacht: „Die römisch-katholische Kirche hinterließ während des ganzen 20. Jahrhunderts ein klägliches Zeugnis des Einvernehmens mit dem Faschismus — von den Glückwünschen an General Franco nach dem Spanischen Bürgerkrieg bis zu den jüngsten Bemühungen im Fall General Pinochets.“ Weiter liest man dort: „Der Kriegspapst Pius XII. war nur zu gern bereit, sich mit ... [Hitler] zu arrangieren und der Verurteilung des Holocaust oder anderen potentiellen Unannehmlichkeiten aus dem Weg zu gehen.“

Die Zeitung The Age schreibt: „Nur allzu oft klangen die Ansprüche der Christenheit hohl. Die Christen haben es nicht vermocht, in ihren eigenen Reihen Frieden und Einheit zu wahren ... Davon zeugen die vielen Beutezüge und Eroberungskriege, die man mit der Absicht rechtfertigte, Menschen für Christus zu gewinnen. Glaube, Hoffnung und Liebe mögen zwar als trefflichste christliche Tugenden herausgestellt werden, doch stehen diejenigen, die sie anzustreben vorgeben, ihren nichtchristlichen Zeitgenossen in Bezug auf Zynismus und die Neigung zur Hoffnungslosigkeit nicht nach, und sie üben wohl auch nicht mehr Nächstenliebe als sie. ... Ausgerechnet ein christliches Land wurde zur Brutstätte des Holocaust, und es war ebenfalls ein christliches Land, das über Japan die Schrecken eines Atomkriegs brachte.“

Man könnte einwenden, im Christentum würden Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit, Mäßigkeit und Gerechtigkeit schon seit langem gefördert. Die Zeitung The Age kommentiert jedoch wie folgt: „Im Allgemeinen verbrauchen doch die Christen in Europa, Nordamerika und Australien einen viel zu hohen Anteil der Ressourcen der Erde, und gierig haben sie bis heute Ausbeutung, Unterdrückung und Umweltzerstörung in schwächeren Nachbarländern gebilligt.“

Zur Zukunft des Christentums heißt es in dem Zeitungsbericht weiter: „Ohne eine intakte institutionelle Struktur hat das Christentum nicht die geringste Aussicht, die soziale Macht der vergangenen Jahrhunderte zurückzugewinnen. Je nach Einstellung mag man das gut oder schlecht finden. Doch mit genau dieser Realität wird das Christentum in den kommenden Jahren konfrontiert.“

Die Verfallserscheinungen in der Welt der organisierten Religion führen dazu, dass sich nun viele von den etablierten Kirchen abwenden. Die Frage ist jedoch, ob die vorhandenen Alternativen die Bedürfnisse dieser Menschen wirklich befriedigen. Sind sie die Lösung?

[Bilder auf Seite 7]

Prunkvolle Zeremonien sind für viele in geistiger Hinsicht unbefriedigend

[Bild auf Seite 7]

Viele haben sich von den traditionellen Religionen wegen deren Rolle bei der Unterstützung von Kriegen und Diktaturen abgewandt

[Bildnachweis]

Foto: age fotostock